Der Verdingbub

Der Schweizer Paul Richener musste auf einem Bauernhof schuften. Heute ist er der Gemeindepräsident des Dorfes

  • Eric Breitinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Morgens um halb sechs raus, rüber in den Stall, ausmisten, dann die schweren Milchkessel zur Käserei am Dorfplatz schleppen. Nach der Schule die Kühe füttern. Am Nachmittag heuen, Kartoffeln oder Weizen ernten. Oder die kaputte Mauer der Scheune ausbessern, ein Migros-Wagen war dagegen gefahren. Seine Initialen im Beton sieht man heute noch. Ruhe hatte er nur, wenn er die Briefe zum Aussiedler-Hof im Tal austrug. Der Bauer, bei dem er war, betrieb auch die Post im Dorf. Abends die Kühen melken, um neun ins Bett fallen. So sahen die Tage von »Pauli« Richener aus, seit er mit zwölf Jahren auf den Bauernhof in das Dorf im Kanton Baselland gekommen war.

Er arbeitete hart für seine Mahlzeiten und die Unterkunft. Der Bauer schlug ihn immerhin nicht so oft wie seine vorherigen Pflegefamilien, Paul bekam genug zu essen, Kleider und durfte in die Schule gehen. Er gehörte als Verdingbub aber trotzdem nie ganz dazu: In der Schule erzählten die anderen von zu Hause, und die Töchter des Bauern berichteten daheim von ihren Erlebnissen in der Schule. Er schwieg, denn er hatte niemanden. Heute ist er 65 Jahre alt, seit drei Jahren in Pension. Seitdem kommen mehr vergessen geglaubte Erinnerungen hoch. So sagt er, dass »ich als Kind ständig in der Fremde lebte« und dass »du als Verdingbub ein Nichts bist.« Man sah ihm das lange auch an. Zuvor in der Schule in Basel trug er lange nur kurze Hosen, er hatte keine anderen. Später bekam er welche aus »Schülertuch«, ein Geschenk der Behörden. Der Stoff war grob, billig und kratzte. Die anderen machten sich über ihn lustig.

Noch in den 1970er Jahre gehörten »fürsorgerische Zwangsmaßnahmen« selbstverständlich zur Schweizer Sozialpolitik. Die Behörden drängten ledige Mütter zur Sterilisierung und zur Adoptionsfreigabe, steckten ihre Kinder oder die von Scheidungsfamilien in Heime. Zugleich praktizierten die Behörden die »Verdingung«. Diese ging so: Die Behörden nahmen armen Familien die Kinder weg und »verdingten« sie bei Bauern. So sparten sie Geld für Hilfsleistungen, weil bei der »armengenössigen« Familie weniger Personen am Esstisch saßen. Und die Bauern verfügten über zusätzliche Arbeitskräfte - ohne Rechte. Viele Verding- und Heimkinder erlebten schlimme Gewalt, Erniedrigungen und Missbrauch.

Paul Richener bekam die »Fürsorge« der Ämter schon früh zu spüren. Er war fünf, als die Behörden seinem Vater, einem Isolierer, die sechs Kinder wegnahmen, nachdem die Mutter fort war. Bei der Auswahl der Pflegeeltern schauten die Behörden weniger genau hin: In seiner ersten Pflegefamilie musste Paul vorm Zubettgehen vor dem Pflegevater in der guten Stube die Unterhose herunterlassen, um zu zeigen, ob sie noch sauber war. Dessen vier Kinder guckten zu, lachten. Paul musste immer allein in der Küche essen. Die nächste Pflegefamilie schloss ihn ständig ein - jeden Abend und auch tagsüber, wenn sie ausging. Er war nie dabei. Er hatte auch kein Bett, sondern schlief auf Decken auf dem Speicher, in den es hereinregnete. Die Pflegemutter beschwerte sich, wie Behördenakten belegen, bei der Vormundin über sein »heuchlerisches Wesen«, behauptete, dass Paul »Geld stibitzte und es wegleugnete«. Sie klagte, dass er »keine Bindung« an die Familie habe. Sie behielten ihn nur wegen des staatlichen Kostgeldes.

Seinen Vater traf er gelegentlich, wenn er mal wieder ausgebüxt war, in Kleinbasel, dem Arme-Leute-Quartier auf der rechten Rheinseite. Paul mochte ihn, er steckte ihm ab und zu ein Stück »Schoggi« zu. Mit der Mutter war es schwieriger. In der Dämmerung stand er oft in der Mansarde des Kinderheims, in das er mit neun Jahren gekommen war, schaute über die Wettsteinbrücke zu ihrem Viertel. Am Sonntag durfte er manchmal zu ihr. Da hatte sie in der Fabrik frei. Sie nahm ihn mit zum Kegeln, oft mit ihrem neuen Bekannten, doch er saß meist abseits und musste sich allein beschäftigen. Beim Rückweg ins Kinderheim lief er über die Brücke und dachte, dass er jetzt genauso gut in den Rhein springen könnte. Er würde keinem fehlen.

Staatliche Willkür erlebte er auch später. »Pack deine Sachen«, verlangte seine Vormundin eines Tages am Mittagstisch, Fräulein Widmer war eine Frau mit Dutt und faltigem Gesicht. Paul sollte am Nachmittag weiterzeichnen, der Architekt brauchte den Entwurf. Er absolvierte seit neun Monaten bei ihm eine Lehre zum Hochbauzeichner, sein Traumberuf. Aber die Vormundin befahl: »Nichts da, du kommst jetzt mit«. Sie brachte ihn in sein neues Zuhause: ins Jugendgefängnis und -heim in Basel. Viererzimmer, ein schüchterner 16-Jähriger inmitten von Straftätern. Dabei hatte er nichts verbrochen. Die Behörden brachten dort auch einzelne, unbescholtene Jugendliche unter. Richener weiß bis heute nicht, wieso es ihn traf.

Das ist kein Einzelfall. Schweizer Behörden wiesen Tausende Jugendliche ohne Gerichtsurteil in Strafanstalten ein. Es reichte, in den Augen eines Vormunds »arbeitsscheu«, »lasterhaft« oder »aufsässig« zu sein. Der Zugang zu Gerichten blieb den meisten »administrativ Versorgten« verwehrt. Die Behörden verzichteten erst ab 1981 auf die Anstaltseinweisungen - auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Historiker schätzen, dass heute noch über 20 000 Verding- und Heimkinder, »administrativ Versorgte«, Zwangssterilisierte und -adoptierte im Land leben. Viele leiden an den Folgen der staatlichen Willkür. Die reiche, stolze Schweiz tat sich lange schwer mit diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte. Betroffene fanden kein Gehör bei Behörden und Politikern. Ihre Akten blieben unter Verschluss. Noch 2004 lehnte es das Parlament ab, die Geschichte der Verdingkinder und der anderen Opfer »fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen« aufzuarbeiten. Begründung: Es bestehe dazu »aus heutiger Sicht weder ein Bedarf noch eine hohe Dringlichkeit«, und es seien »kaum Ergebnisse zu erwarten, die für die heutige Praxis nutzbar wären«.

Erst im Frühjahr 2013 bat die Justizministerin Simonetta Sommaruga die Betroffenen im Namen der Regierung, des Bundesrates, um Entschuldigung für das zugefügte Leid. Vor wenigen Monaten hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das das Unrecht der »fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen« anerkennt. Der Haken: Eine finanzielle Wiedergutmachung ist nicht vorgesehen. Betroffene in Not sollen ab September einen einmaligen Betrag aus einem Soforthilfefonds bekommen. Das versprach ein von der Regierung initiierter »runder Tisch«. Das Geld sollen Kantone und Institutionen beisteuern. Der Bauernverband weigert sich offen, in den Fonds einzuzahlen. Der Verband habe keine Kinder verdingt. Für Richener ist das Augenwischerei: »Die Bauern profitierten am meisten von der Ausbeutung der Kinder.« So fürchten viele Betroffene, dass die Regierung und die Verbände sie mit warmen Worten, aber ohne angemessene Entschädigung abspeisen könnten. Derzeit sammeln sie Unterschriften für eine Volksabstimmung mit dem Ziel, den Fonds mit 500 Millionen Franken aus der Bundeskasse zu speisen und die damalige Behördenpraxis umfassend von Historikern aufarbeiten zu lassen.

Paul Richener rackerte sein ganzes Leben, um die Anerkennung zu bekommen, die er als Kind vermisst hat. Im Jugendgefängnis musste er Gärtner lernen. Der Leiter prophezeite ihm zum Abschied: »Büebli, aus dir wird nichts«. Doch Paul Richener machte bei der Polizei Basel-Stadt Karriere - zuerst bei der Sicherheitspolizei, dann Antiterroreinheit, Ausbilder in der Polizeischule und später Leiter der Bußenzentrale. Er gründete eine Familie, sein Sohn ist heute auch bei der Polizei. Aber er erzählte seine Geschichte nie einem Kollegen. Und er fühlte sich, wie er sagt, auch nie so anerkannt wie die anderen Polizeikader, obwohl er viel mehr investierte als sie.

Das Gleiche erlebt er heute noch. Er ist seit vierzehn Jahren der gewählte Gemeindepräsident von Nusshof. Die Gemeinde hat in der Zeit ein neues Baugebiet erschlossen, ein neues Mülltrennungssystem eingeführt und die Gemeindekanzlei renoviert. Das Dorf hat 250 Einwohner, 50 Prozent mehr als zu der Zeit, als er anfing. Die Gemeinde ist schuldenfrei. Doch ein paar Zugezogene behaupten, er würde seine Sollstunden als Gemeindepräsident nicht ableisten. Das Gegenteil ist der Fall. Er sagt, dass für ihn von Anfang an klar war, dass er dem Dorf etwas zurückgeben wolle. Schon als Zwölfjähriger sagte er zur Frau des Bauern, während sie am Fenster standen: »Das Land da unten kaufe ich mal.« 37 Jahre später kam er aus der Stadt zurück und baute genau auf diesem Flecken sein Haus. Es ist ein stattlicher, moderner Bau mit glänzenden Steinböden, viel Chrom. Von der Veranda bietet sich ein grandioser Ausblick auf das Tal. Wo hätte ich auch sonst hin sollen? fragt er: »Das Dorf ist der einzige Bezugspunkt, den ich je hatte.«

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