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Prüde Journalisten

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Selbst im tiefsten Sommerloch lauert die große Sensation in jeder dunklen Ecke, dachte sich wohl der Journalist Matthias Meisner. Der Kollege vom »Tagesspiegel« kennt sich aus mit den schmutzigen Hinterzimmern des Internets - zumindest wenn es sich um die frei zugänglichen Twitterprofile deutscher Politiker handelt. Dem unglaublichsten Sexskandal seit der Verbannung des Seite-1-Mädchens durch die »Bild« schien Meisner vor einigen Tagen auf der Spur zu sein.

Sex und Politik? Da dürfte jeder prüde Journalist seit der Affäre des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit einer Praktikantin des Weißes Hauses sofort lüstern aufhorchen. Immerhin reichte der Skandal aus, um den damals einflussreichsten Politiker im Land mit der eifrigsten Pornoindustrie ein erfolgloses Amtsenthebungsverfahren an den Hals zu hetzen.

Meisner allerdings muss bei seiner Recherche eher enttäuscht gewesen sein, da er statt eines Sexskandals der Kategorie Clinton hierzulande nur einen Johannes Kahrs fand. Unter der Überschrift »Porno im Kurznachrichtendienst« enthüllte der »Tagesspiegel« Fakten, die nur dank investigativer Höchstleistungen möglich waren: Politiker haben - dramatischer Trommelwirbel - eine eigene Sexualität, die wie bei anderen Teilen der Bevölkerung auch manchmal zum eigenen Geschlecht neigt. Kahrs machte aus Meisners Sicht allerdings den Fehler, auf Twitter eben nicht nur zuzugeben, dass er Interesse an der Jungen Union Eimsbüttel hat. Er folgte dieser genauso wie den auf Mann-Mann-Situationen spezialisierten Pornosternchen namens Damon Dogg und Robert van Damme.

Die Geschichte wäre in der Versenkung verschwunden, hätte Meisner nicht ein Sprach- und Denkmuster der Sittenwächter aus den grauen 50ern an den Tag gelegt. Soll der Leser bei Sätzen wie »Die anzüglichen Bilder sind garniert mit Hinweisen auf ›heiße Ärsche‹ oder ›stramme Jungs‹« und »Verbreitet werden auch Bilder von erigierten Penissen« nun mit wutschnaubender Homophobie reagieren oder besser wie ein Zwölfjähriger kichern, weil Meisner das Wort Penis in den Mund genommen hat?

Als »peinliche und lustfeindliche Geschichte« kommentiert queer.de den Beitrag und warnt vor einem Rückfall in Adenauer-Zeiten. LINKEN-Politiker Klaus Lederer schrieb auf Twitter ironisch: »Ich glaube, ich muss mir aus Solidarität mit @kahrs ein paar Twitterkanäle mit schwänzen zulegen. Vielleicht sogar mit megaschwänzen.«

Ins betonierte Weltbild von Menschen, die Nacktbilder nur für akzeptabel halten, wenn auf ihnen Frauen zu sehen sind, passt der Sommerloch-Porno-Skandal der »Neuen Züricher Zeitung«. Man(n) enthüllte, dass eine Sekretärin des Bundeshauses Nacktbilder von sich an ihrem Arbeitsplatz auf Twitter verbreitete, ohne dabei ihren Namen zu nennen. Beim Boulevardblättchen »20min.ch« war es vorbei mit der Zurückhaltung: »Kennen Sie die betreffende Dame? Schreiben sie uns«. Bei so viel Tiefgang wünscht man sich das Sommerlochkrokodil zurück.

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