nd-aktuell.de / 08.08.2014 / Politik / Seite 3

Das Dorf des Dienstmädchens

In Guatemala treffen beim Austausch einer Deutschen Schule mit Kindern der Mayabevölkerung extrem unterschiedliche Welten aufeinander

Andreas Boueke
Seit 1994 wird der Tag der indigenen Völker am 9. August begangen. Eine Partnerschaft zwischen der Deutschen Schule in Guatemala und der Mayaschule Ixmukané versucht Brücken zu bauen.

Der Wohlstand in Lateinamerika hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Trotzdem ist die Zahl der Armen gestiegen, besonders unter der indigenen Bevölkerung. Wieso? Unter anderem, weil die soziale Distanz zwischen der kleinen, einflussreichen Oberschicht, die von der Globalisierung profitiert, und der verarmten Bevölkerungsmehrheit immer größer wird. Die Menschen leben nicht weit voneinander entfernt, aber trotzdem in verschiedenen Welten.

Kleine Brücken der Verständigung, wie die Partnerschaft zwischen der Deutschen Schule in Guatemala und der Mayaschule Ixmukané, können einen Beitrag leisten zum Abbau der Distanz und somit zur Überwindung der Armut. Die Deutsche Schule in Guatemalas Hauptstadt gehört zu den 121 Deutschen Schulen im Ausland, in denen neben dem landeseigenen auch das deutsche Abitur möglich ist.

Das Wort »muchacha« (Mädchen) ist die in vielen Ländern Lateinamerikas übliche Bezeichnung für weibliches Haushaltspersonal. In den meisten Häusern der Wohlhabenden sorgt mindestens eine Angestellte für das Wohl der Bewohner. Manche Familien werden sogar von mehreren Putzhilfen, Köchinnen, Gärtnern und Chauffeuren umsorgt. In dem mittelamerikanischen Land Guatemala stammt das Hauspersonal oft aus einem Volk der Mayas, die ursprüngliche Bevölkerung des Landes. Im Alltag verbringen viele Kinder der Reichen mehr Zeit mit dem Dienstmädchen als mit ihren Eltern. Trotzdem würden sie nicht auf die Idee kommen, mal das ärmliche Dorf zu besuchen, aus dem die junge Frau stammt. Diesen Gedanken hält eine Mutter, deren Söhne die Deutsche Schule in Guatemala-Stadt besuchen, geradezu absurd: »Ich bin mir sicher, dass das niemand tut. Das interessiert uns nicht. Das Dienstpersonal ist ja zum Arbeiten da, um der Familie zu helfen. Dafür werden die Leute bezahlt.«

Einige Hausangestellte verdienen rund 50 Euro in der Woche, die meisten deutlich weniger. Dafür arbeiten sie oft mehr als 60 Stunden. Die Kinder der Familien, für die sie arbeiten, bewegen sich meist von einem abgeschotteten Raum zum anderen. Die Deutsche Schule in Guatemala liegt hinter hohen Mauern und Stacheldraht. Sie wird von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht, genauso wie die meisten Einkaufszentren, der Deutsche Club oder die Siedlungen der Wohlhabenden. So kommt es fast nie zu Begegnungen auf Augenhöhe mit Gleichaltrigen aus anderen sozialen Schichten. Daraus ergibt sich eine pädagogische Herausforderung, der sich die Direktorin des Kindergartens der Deutschen Schule, Gretel Lossau, stellt. Sie möchte ihren Schülerinnen einen anderen Blick ermöglichen auf das Land, in dem sie leben. »Die Kinder an unserer Schule wachsen in Gegenden auf, in denen sie behütet sind. Sie besitzen sehr viele Dinge, häufig überflüssige Dinge. Ich selbst bin gebürtige Guatemaltekin. In diesem Land habe ich von klein auf beobachtet, dass ich durchaus eine privilegierte Stellung habe. Mir wurden die Dinge in die Wiege gelegt.«

Gretel Lossau hat einen Austausch der Deutschen Schule in Guatemala mit der Landschule Ixmukané angeregt, die 80 Kilometer entfernt in dem Dorf Tecpán liegt. Dort werden vorwiegend Kinder der Mayabevölkerung unterrichtet. »Wir müssen unsere Kinder mit den Kindern in den Dörfern zusammenbringen«, meint Gretel Lossau. »Viele Guatemalteken kennen die Kultur ihres eigenen Landes überhaupt nicht. Aber die Mayakultur ist ein wichtiger Teil der Realität Guatemalas.«

Die Begegnung der beiden grundverschiedenen Schulen soll nicht nur das Mitgefühl der Schüler an der Deutschen Schule für andere, arme Menschen stärken, sondern auch den Respekt für die naturverbundene Religion der Mayabevölkerung. »Jedes Jahr organisieren wir ein Treffen in Iximché«, erzählt Gretel Lossau. »Dort nehmen wir an Mayaritualen teil, zu denen wir früher überhaupt keinen Zugang hatten.«

Die Ruinenstadt Iximché ist eine der bedeutendsten Tempelanlagen der klassischen Epoche der Mayakultur Mittelamerikas. Die Direktorin der Schule Ixmukané, Alba Velásquez, steht auf einer Wiese, umgeben von kleinen Pyramiden, großen Steinblöcken und etwa 40 Besuchern aus der Deutschen Schule. Die meisten von ihnen haben Stipendien für Schülerinnen der nahe gelegenen Grundschule Ixcmukané gespendet.

Alba Velásquez stammt selbst aus dem Mayavolk der Kaqchikel. Sie will die Sprache und Tradition der Kultur ihrer indigenen Vorfahren wiederbeleben, um so das Selbstbewusstsein ihrer Schülerinnen und Schüler zu festigen: »Wir bemühen uns, dass vor allem die Mädchen stolz darauf sind, Mayas zu sein. Früher wurde eine indigene Person behandelt, als wäre sie nichts wert. Unsere Vorfahren wurden wie Packtiere behandelt. Das war Sklaverei. Ich spreche von der Generation unserer Großeltern, die das noch so erlebt haben.«

Der Bau des Gebäudes der Ixmukané-Schule wurde von der deutschen von-Brauck-Stiftung finanziert. Deshalb sind die Klassenräume im Vergleich zu anderen Bildungseinrichtungen der Region sehr gut ausgestattet. Es gibt stabile Möbel, dichte Dächer, Fenster mit Glasscheiben und anspruchsvolles Unterrichtsmaterial. Zudem bekommen die Lehrerinnen seit Beginn der Zusammenarbeit mit der Deutschen Schule immer wieder die Möglichkeit, an Fortbildungen teilzunehmen. Das Lernklima ist fröhlich, auch weil die Kinder wissen, dass ihre Schule eine der wenigen ist, an denen sie in ihrer Muttersprache Kaqchikel unterrichtet werden. Die Sechstklässlerin Marisol meint: »Wir lernen hier, richtig Kaqchikel zu sprechen. Ich freue mich, in meiner Sprache lernen zu können. Ich war auch schon auf anderen Schulen. Da haben wir nie Kaqchikel gesprochen.«

Die Lehrerin Anaelisa Ordoñez wird in ihrem Schulalltag mit völlig anderen Problemen konfrontiert als ihre Kolleginnen an der Deutschen Schule: »Wenn unsere Kinder morgens ankommen, haben sie meist nichts gefrühstückt. Deshalb können sie den Erklärungen der Lehrerin nicht folgen. Egal wie oft du die Inhalte wiederholst, ein hungriges Kind wird sie nicht verstehen.«

Die Direktorin Alba Velásquez hält den Austausch für eine große Chance, nicht nur für ihre Schüler: »Wir möchten ein kleines Stück Tecpán in die Deutsche Schule bringen. Wir wollen den Menschen dort die Wirklichkeit Guatemalas zeigen. Das wird uns allen helfen.«

Als ein Höhepunkt des Besuchs der Familien der Deutschen Schule wird in Tecpán eine traditionelle Zeremonie der Mayareligion gefeiert. Alba Velásquez spricht die Begrüßungsworte: »Diese Zeremonie ist eine Danksagung. Wir danken jedem Einzelnen von Ihnen für das gute Herz gegenüber unserer Schule. Diese Feier wird von unserem spirituellen Führer Felipe Mejia geleitet.«

Zuerst spricht die Lehrerin Carmelina Lix ein Gebet auf Kaqchikel, wirft ein paar Kerzen in ein Feuer, küsst dreimal die Erde, bedankt sich bei Mutter Natur für den schönen Tag und bei den Besuchern für die Stipendien. Dann übergibt sie das Wort an Felipe Mejia, einen kräftigen Mann in Sandalen, der ein rotes Tuch um die Stirn gebunden trägt.

Auch Felipe Mejia bedankt sich für die Unterstützung durch die Deutsche Schule, obwohl er später erklärt, dass ein solcher Anlass bei vielen Angehörigen der Mayabevölkerung nicht Dankbarkeit, sondern ganz andere Gefühle hervorruft: »Viele glauben, all der Reichtum, den die Leute in der Stadt haben, sei von den Mayas gestohlen.«

Seit der Eroberung durch die Spanier hat die Urbevölkerung Mittelamerikas fünf Jahrhunderte der Ausbeutung und des Rassismus erlebt. Felipe Mejia meint, die Mayas in Guatemala seien noch heute weitgehend ausgeschlossen von der wirtschaftlichen und politischen Macht: »Es gibt viel Missgunst. Das merkt man besonders dann, wenn die Projekte kommen, denn die meisten Spenden werden nun mal von Leuten übergeben, die Geld haben oder von Leuten, die Kontakt ins Ausland haben. Wenn sie in die Gebiete der Urbevölkerung kommen, merken sie vielleicht gar nicht, dass sie dort auch auf viel Zorn und Zurückweisung treffen.«

Felipe Mejia möchte dazu beitragen, dass die Menschen lernen, untereinander und mit der Natur in Harmonie zu leben: »Eigentlich geht es in der Mayaspiritualität darum, dass alle Menschen miteinander teilen. Aber in vielen Mayagemeinden sagen die Leute: ›Nein, mit diesen Fremden wollen wir nichts zu tun haben, weil sie uns immer betrügen. Sie haben uns immer bestohlen, sie haben uns immer vertrieben.‹«

Nach der Zeremonie fahren die Besucher zum Gebäude der Schule Ixmukané. Dort bekommen 65 bedürftige Schülerinnen und Schüler ein Zertifikat für ein Stipendium überreicht. Für die Kinder ist das eine große Hilfe und für die Familien aus der Hauptstadt ein außergewöhnliches Erlebnis. Eine Mutter ist begeistert: »Wir haben sonst fast nie die Möglichkeit, einen solchen Ort kennenzulernen. Wir sind meist eingebunden in unseren Alltag. Aber ich finde es wichtig, dass wir zumindest einmal im Jahr herkommen, um die Menschen zu unterstützen.«