Mit Küchentisch aus einem tiefen Keller

Gewagtes Experiment: Sachsens SPD-Chef Martin Dulig gibt sich ungewohnt freimütig

  • Hendrik Lasch, Plauen
  • Lesedauer: 8 Min.
Sachsens SPD landete bei Landtagswahlen dreimal im Keller. Damit das 2014 anders wird, setzt sie voll auf die Person ihres Spitzenkandidaten Martin Dulig - und auf ein Möbelstück.

Immerhin: Man hat sich nicht für eine Couch entschieden. Ein wuchtiges Polstermöbel würde die Helfer für das Experiment, in das sich Sachsens SPD in diesen Wochen gestürzt hat, noch mehr ins Schwitzen bringen. Schon mit dem Küchentisch, den sie an diesem Tag erst vor dem Werkstor des Bus-Herstellers Neoplan in Plauen und später neben dem Dom von Zwickau auf den Gehweg stellen, haben die jungen Wahlkampfhelfer ihre liebe Mühe. Eine dicke Holzplatte und vier solide Beine verleihen dem Möbelstück Gewicht; seine Maße fordern beim Ausladen aus dem roten Kleinbus Fingerspitzengefühl. Bei einem Umzug wäre man froh, den Tisch einmal glücklich verstaut zu haben. Jetzt aber wird der Umzug zum Dauerzustand: Rein, raus, rein, raus - allein an diesem Tag wird der Tisch sechsmal hin- und wieder weggeräumt.

Das Möbelstück ist Martin Duligs wichtigster Wahlkampfhelfer. Dulig wiederum ist der Spitzenkandidat der SPD im sächsischen Landtagswahlkampf 2014; er ist der Mann, der seine Partei aus dem Keller holen soll. Dort sitzt sie seit 15 Jahren fest: seit jenen 10,7 Prozent, auf die sie vor nunmehr 15 Jahren gestutzt wurde. Ausgerechnet in dem Land, in dem sie einst gegründet wurde, erlebte die Partei im Herbst 1999 ein Debakel, das bundesweit ohne Beispiel war - aber noch nicht das Ende des tiefen Falls: 2004 später war das Ergebnis gar einstellig. Der Umstand, dass es dennoch für den Eintritt in die erste Koalitionsregierung im Freistaat reichte, ließ die Sache nur unwesentlich rosiger erscheinen; er half der Partei auch nicht auf die Beine: 2009 stand wieder nur die Zehn vor dem Komma. »Die SPD hatte ein Verlierer-Image«, sagt ihr Spitzenkandidat, für den das Ganze höchstens einen Vorteil hat: Es kann eigentlich nur besser werden. »Wir haben«, sagt Dulig, »nichts zu verlieren.«

Auf schwierige Situationen reagieren Menschen und offenbar auch Parteien unterschiedlich: Die einen werfen die Flinte ins Korn, andere werden wagemutig. Die Kampagne, die Sachsens SPD sich für diesen Sommer geschneidert hat, erachten manche sogar als tollkühn. »Wir setzen alles auf eine Karte«, sagt Dulig, »mit Haut, Haar und Konsequenz.« Die Karte heißt: Martin Dulig - und zwar nicht vorrangig in seiner Rolle als Politiker, sondern als Mensch, Privatmann, Familienvater. Vier Monate vor der Wahl verteilte die SPD an alle Haushalte in Sachsen ein Magazin. »Kennen Sie diesen Mann?«, stand auf dem Titel über einem Porträt des Kandidaten. Im Bemühen, seinen zuvor eher mäßigen Bekanntheitsgrad zu steigern, gibt sich Dulig offen und freimütig wie zuvor nur wenige Politiker in der Republik. Seit der Lektüre der 16 Seiten wissen die Wähler nicht nur, dass Dulig Trompete spielt und Maurer mit Abitur gelernt hat; sie erfuhren auch, wann er seine Frau erstmals küsste und dass er »beim Bügeln besser werden könnte«. Neben Prominenten wie den Musikern Roland Kaiser und Sebastian Krumbiegel äußern sich auch Jugendfreunde und Weggefährten. Eine indirekte, aber nicht zu unterschätzende Rolle spielen Duligs sechs Kinder im Alter zwischen 9 und Anfang 20. Mit ihnen, so ist zu lesen, rede der Kandidat, der selbst gerade erst 40 wurde, beim Essen oft auch über Politik. »Meine besten Berater«, sagt er im Heft, »sitzen am Küchentisch.«

Der Satz inspirierte zu einer Idee, die derzeit viel Aufsehen erregt: zum Wahlkampf mit Möbel. Nur sitzen nicht mehr Duligs Frau und Kinder am Küchentisch, sondern Erzieherinnen und Betriebsräte, Bürgermeister und Kleingärtner, Landfrauen und Gewerkschafter. Das Möbelstück wurde Teil einer Kampagne, die Politprofis höchst aufmerksam verfolgen - weil sie so ungewöhnlich ist. »Das macht man eigentlich nicht«, sagt Holger Zastrow, Spitzenkandidat der FDP im Freistaat und zudem Chef einer Werbeagentur. Den Fachmann bringt zum Staunen, dass die Genossen die übliche Schrittfolge faktisch umkehren. Üblicherweise wird ein Kandidat zunächst bekannt gemacht; anschließend eignet er sich als alleiniges Zugpferd für eine Kampagne. Die SPD probiert beides auf einmal. Er sei »gespannt, ob das funktioniert«, sagt Zastrow. Ein anderer politischer Mitbewerber hält die »Amerikanisierung für ungewöhnlich bei einer Partei, die nicht den Ministerpräsidenten stellen wird«. Dulig sagt lapidar: »Wir haben kaum eine andere Wahl.«

Nach dem dritten Wahldebakel in Folge hatten die Genossen eine repräsentative Auswahl an Wählern befragen lassen. Sie sollten mitteilen, was sie von der Partei hielten, was sie ihr zutrauten, worin sie deren Rolle im Freistaat sahen. Die Ergebnisse waren ernüchternd - und mündeten in einen radikal veränderten Auftritt. Dulig wird nicht nur als Kandidat aufgebaut, der schonungslos offen und ehrlich wirken soll, der die Wähler in sein Herz und seine Küche blicken lässt, auf Wahlplakaten den legeren Kumpeltyp gibt und auf Pressefotos frech grinsend die Merkelsche Raute imitiert. Auch die Partei verpasste sich eine völlig neue Attitüde. Es habe, sagt Dulig, »keine sächsische Identität für die SPD« gegeben. Nun, so der Plan, soll sie eine bekommen.

Was er meint, erklärt Dulig mit einer griffigen Formel. Die SPD, sagt er, müsse »zu den Sachsen passen und nicht die Sachsen zu uns«. Soll heißen? Jahrelang hätten die Genossen ein tristes Bild vom Freistaat gezeichnet und den Bürgern einzureden versucht, um die Lage zu bessern, müssten sie SPD wählen. Das Problem: Viele Sachsen empfinden ihre Lage nicht als mies. Sie mögen mit dem häufigen Unterrichtsausfall an sächsischen Schulen unzufrieden sein, mit der Streichung von Stellen bei der Polizei oder von Busverbindungen auf dem Land. Im Grunde aber, so lautet Duligs These, ist ein Großteil der potenziellen SPD-Wähler auch stolz auf das Land und mit Schwarzmalerei nicht zu begeistern. »Wir haben uns«, sagt Dulig, »selbst zum Fremdkörper gemacht.«

Diesmal soll alles anders sein: Die SPD soll zu Sachsen passen - sie soll sich, wie ihr Frontmann sagt, »mir Land und Leuten versöhnen«. Plötzlich wird in der Partei darüber diskutiert, was es mit Heimat und Heimatgefühl auf sich hat. Auf einmal feilt man an einem Image als »Sachsen-Partei«, ein Etikett, dass ein Vierteljahrhundert lang die dauerregierende CDU für sich beanspruchte. Er habe, räumt Dulig ein, in den eigenen Reihen mit derlei Debatten nicht nur Begeisterung geerntet. Es gab aber wohl auch kein anderes Rezept, das Aussicht auf Erfolg verhieß.

Nun gibt es also Plakate, auf denen der Spitzenkandidat allgegenwärtig ist und die Bürger nicht mit Kritik behelligt, sondern Fragen stellt - dazu, wie sie sich das Sachsen von morgen vorstellen. Beobachter meinen auch zu erkennen, dass die Attacken auf politische Mitbewerber gebremst wirken. Die Wähler, heißt es zur Antwort, mögen keinen Streit. »Profilierung bedeutet nicht Aggression«, erklärt Dulig, »sondern bessere Antworten zu finden.« Die SPD verzichtet indes nicht nur auf Streit, sondern auch auf Treuebekenntnisse zu anderen Parteien und möglichen Koalitionen. »Wir kämpfen für uns«, sagt Dulig. Dass die LINKE ihm fehlende Glaubwürdigkeit vorwirft, weil er einerseits die Ablösung der CDU postuliert, aber auch die Neuauflage einer schwarz-roten Koalition nicht ausschließt, ficht ihn nicht an. Erstens nutze ein Lagerwahlkampf nur CDU und LINKEN, aber nie der SPD. Zudem wolle er sich die Möglichkeit offen halten, eigene politische Ziele umzusetzen - ganz gleich, ob es für Rot-Rot-Grün reicht oder nicht.

Dass es am 31. August womöglich wieder nicht reicht - das lasten Kritiker freilich nicht zuletzt der anhaltenden Schwäche der SPD an. Zwischen 13 und 15 Prozent billigen ihr Demoskopen derzeit zu. Ob er damit schon zufrieden ist und wo die Messlatte für den Erfolg seiner Kampagne liegt - dazu hält Dulig sich bedeckt. Er weiß um das Risiko; er weiß, dass ein Scheitern noch mehr als bei herkömmlichen Kampagnen ihm als dem Gesicht des Wahlkampfes angelastet würde. Er hat aber auch vorgebaut: Die Landtagswahl sei »nicht das Ende, sondern der Anfang eines Prozesses«, sagt er. Als er 2009 zum Landeschef der darbenden Partei gewählt wurde, bat er, man möge ihm zehn Jahre Zeit geben. Auf 18 bis 20 Prozent wird das Potenzial der SPD im Freistaat taxiert. Schafft er auf dem Weg aus dem Zehn-Prozent-Keller jetzt die Hälfte des Weges zu dieser Marke, dürften genügend Genossen zufrieden sein. Schafft man es zudem in die Regierung - um so besser.

Zwar gibt es auch in den eigenen Reihen jene, die in der Regierungsbeteiligung zwischen 2004 und 2009 einen wesentlichen Grund dafür ausmachen, dass es kaum aufwärts ging. Dulig aber gehört zu denen, die in den oft bitteren Erfahrungen der Koalitionsjahre eher einen Wechsel auf die Zukunft erkennen: Es sei ein »Crashkurs in Realpolitik« gewesen, bei dem man viel gelernt habe - so viel, dass man für eine Wiederholung besser gewappnet sei, glaubt er. Als die Partei ihr Wahlprogramm beschloss und Dulig eine Rede hielt, verzichtete er auf das zum Auftakt oft übliche Zitat - und gab statt dessen ein Bekenntnis ab: »Ja, ich will regieren.«

Noch ist es nicht so weit. Noch sitzt Dulig nicht am sächsischen Kabinetts-, sondern am eigenen Küchentisch. Und damit kein falscher Eindruck aufkommt, stellt er eines stets gleich eingangs klar: Frau und Kinder müssen trotz der möbelgestützten Wahlkampagne nicht vom Fußboden essen. »Wir haben einen neuen Tisch gekauft«, sagt er, »diesmal sogar einen, der sich ausziehen lässt.«

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