Vom machtlosen Zuschauer zum handelnden Akteur

David Dufresne, Entwickler von »Fort McMoney«, spricht über seine Hartnäckigkeit als Regisseur und unerlässliche politische Debatten

  • Lesedauer: 4 Min.
Der französische Journalist David Dufresne, geboren 1968, war Reporter der linken Tageszeitung »Libération« und Mitbegründer der investigativen Internetzeitung »Médiapart«. Seit zehn Jahren dreht er Dokumentarfilme. »Fort McMoney« ist seine zweite interaktive Web-Dokumentation. Mit Dufresne sprach Ralf Klingsieck.

nd: Wie sind Sie auf die Idee zu »Fort McMoney« gekommen?
Dufresne ist Mitbegründer der Internetzeitung »Médiapart« und dreht Dokumentarfilme. »Fo: Wir wollten ein lebensechtes «SimCity» entwickeln. «SimCity» war Ende der 80er Jahre ein beliebtes Videospiel über die Entstehung und Entwicklung einer Stadt. Als virtueller Bürgermeister hatte man eine Stadt zu regieren und die entsprechenden Entscheidungen zu fällen. Das Spiel hat seinerzeit die Videospielszene umgekrempelt. Wir versuchten die Logik des Videospiels zu erhalten - in der Form eines interaktiven Dokumentarfilms. Unsere Grundregel war: Wenn es einen Konflikt zwischen der Videospiel-Logik und dem Dokumentarfilm gab, wurde immer zugunsten des Dokumentarfilms entschieden. An keiner Stelle wurde die Realität zurechtgebogen, um dem Spiel entgegenzukommen.

Warum fiel die Wahl beim Sujet auf die Problematik Ölförderung und Umweltschutz?
Nicht nur das, sondern auch auf die sich daraus ergebenden sozialen Folgen. Die sind sehr wichtig. Ich bin beeindruckt von «monoindustriellen» Städten, die auf nur einen Wirtschaftszweig ausgerichtet sind, also hier das Schürfen von Ölsand zur Erdölgewinnung. Dieses Konzentrat des Kapitalismus macht schonungslos die Welt deutlich, in der wir leben. Als ich mich für die Ölstadt Fort McMurray zu interessieren begann, bin ich nach Kanada umgesiedelt. Kanada ist das erste und einzige Land der Welt, das sich aus dem Umweltschutzprotokoll von Kyoto zurückgezogen hat. Diese Entscheidung ist gefallen aufgrund dessen, was sich in Fort McMurray abspielt. Die kanadische Regierung wusste, dass sie die Umweltschutzverpflichtungen aufgrund der Art der Ölförderung dort nicht würde erfüllen können.

Sie hat sich also auf die Seite des Geldes geschlagen?
Absolut!

Faszinierend sind die verschiedenen Facetten des Problems, etwa das Abwägen zwischen Beschäftigung und guten Einkommen einerseits und Zerstörung der Natur andererseits. Hat Sie diese Interessenvielfalt gereizt?
Genau! Das ganze Projekt beruht darauf, tiefer hinter die Argumente der Wachstumsfetischisten und der Umweltschützer zu leuchten, die beide manchmal sehr vereinfachend und sogar simpel sind. So meinen die Wachstumsfetischisten beispielsweise, dass sich eine Debatte erübrige, weil alles so klar sei: Das Öl helfe der Wirtschaft Kanadas und damit der Weltwirtschaft, weil unter den zehn größten ökonomischen Akteuren der Welt fünf Ölkonzerne sind. Doch wir wollten zeigen, dass man darüber sehr wohl debattieren kann und muss. Unser Spiel erlaubt es den Spielern, nicht nur einfache Zuschauer oder machtlose Beobachter zu sein, sondern in die Grauzone einzudringen, wo die Weichen gestellt werden und die Dinge doch etwas komplizierter sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen.

War es schwer, die verschiedenen Protagonisten zum Reden zu bringen?
Eigentlich nicht. Die Vertreter der Ölindustrie sind sehr geübt darin, schöne Worte zu drechseln, ohne wirklich etwas auszusagen. Aber sie sträubten sich, uns einen Einblick in die Realitäten zu ermöglichen. Zwei Jahre lang wurden unsere Wünsche nach Besichtigungen vor Ort mit den abenteuerlichsten Begründungen abgewiesen. Entweder passte der Tag nicht, oder die Jahreszeit oder das Wetter. Aber wir hatten Zeit. Ich habe also wieder und wieder angerufen. Nach zweieinhalb Jahren Drängen durften wir dann doch die Ölfelder von Syncrude und von Shell besichtigen und filmen. Das Interessanteste war, hinter die Halbwahrheiten, die ganzen Lügen oder das nichtssagende Wortgeklingel zu leuchten. Da schafft das Spiel Klarheit, denn der Spieler kann eine Unmenge von Fragen an die Protagonisten richten und sich so ein Bild von den Beweggründen dieser oder jener Person machen.

Macht so ein Doku-Spiel mehr Arbeit als ein gewöhnlicher Dokumentarfilm?
Oh ja, sehr viel mehr. Man muss mehr drehen, aus verschiedenen Blickwinkeln. Man muss Hintergründe und Panoramen einfangen, vor denen dann die Protagonisten auftreten. Das Szenario ist das reinste Labyrinth, denn es geht ja darum, die verschiedensten möglichen Konstellationen vorauszusehen. Dazu kommen komplizierte technische Fragen.

Wie waren die Reaktionen auf das Spiel?
Wir haben bisher mehr als 650 000 Besucher der Internetseite und 200 000 aktive Spieler gezählt. Mit einem solchen Enthusiasmus hatten wir nicht zu rechnen gewagt. Das liegt meiner Meinung nach vor allem an der Form, denn gewöhnliche Dokumentarfilme zu diesem Thema gibt es massenweise und viele davon sind sehr gut. Es gibt auch ausgezeichnete Bücher dazu, aber all das vermag nicht die gleichen Reaktionen auszulösen.

Wird das neue Konzept des interaktiven Doku-Spiels den Dokumentarfilm ablösen?
Das Internet ist ein Feld für Kreativität. So wie sich der Film verändert hat, als erst der Ton und dann die Farbe hinzukamen, so findet auch das Doku-Spiel seinen Platz und eröffnet neue Horizonte. Aber ich glaube nicht, dass es den Dokumentarfilm verdrängen wird. Der hat auch weiter seine Berechtigung. Letztlich kommt es immer auf das Sujet an.

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