nd-aktuell.de / 25.08.2014 / Politik / Seite 10

Osteuropa, Deutschland und die NATO

Über Metamorphosen des transatlantischen Bündnisses, die Ukraine und das Erweiterungsproblem in Europa

Erhard Crome

Drei Prozesse kennzeichnen die internationalen Beziehungen in Europa: Erstens: Die Integrationsprozesse im Rahmen der Europäischen Union (EU) setzen sich in die Tiefe und mit der Osterweiterung auch in die Breite fort - das schließt auch die verschiedenen Assoziierungsabkommen, so mit der Ukraine, Georgien und Moldawien ein; zweitens: die Desintegrationsprozesse im postsowjetischen Raum sind, wie der Konflikt um die Ukraine zeigt, nicht beendet und stehen in einem komplizierten Wechselverhältnis zu neuerlichen Integrationsprozessen, etwa in Gestalt der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland; drittens: die Osterweiterung der NATO ist Teil einer von den USA betriebenen Neuordnung der Welt, wobei diese auf differenzierte Interessenlagen der »alten« NATO-Mitglieder einerseits und der »neuen« Beitrittsländer andererseits trifft.

Strategisch war die NATO-Osterweiterung stets ein Vorrücken der geostrategischen und militärischen Positionen der USA und des von ihnen dominierten militärisch-politischen Gefüges in Richtung Osten und damit im Kern gegen Russland gerichtet. Aus Sicht der politischen Klassen in Warschau, Prag und Budapest wurde die Aufnahme in die NATO als Rückversicherung gegenüber Moskau und Konsequenz des Systemwechsels angesehen. Aus polnischer Perspektive gab die Aufnahme in die NATO darüber hinaus die Möglichkeit, auch mit dem größeren und wirtschaftlich ungleich stärkeren Deutschland »auf gleicher Augenhöhe« zu verkehren. Die ursprünglichen westeuropäischen NATO-Partner haben die Erweiterungsprozesse ihrerseits mitgetragen und im Sinne ihrer jeweiligen Interessen zu beeinflussen versucht.

Die erste NATO-Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn im Jahre 1999 ging noch davon aus, dass die erreichte Kriegsführungsfähigkeit der Organisation erhalten bleiben sollte. Die Militärorganisation, ihre Institutionen und Strukturen, wie sie sich bis dahin herausgebildet hatten, sollten erhalten bleiben. Dann wurde der Krieg der NATO gegen Jugoslawien (1999) geführt und der Krieg der USA gegen den Irak (2003) angezettelt. Der Jugoslawien-Krieg war - im Unterschied zum zweiten Golfkrieg 1991 - einerseits Probe darauf, einen Angriffskrieg außerhalb der UNO zu führen, sich selbst dazu zu ermächtigen und sich dabei über geltendes Völkerrecht hinwegzusetzen. Daran waren alle damaligen NATO-Staaten beteiligt. Insofern war die Nichtbeteiligung einer Reihe von NATO-Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Belgien, an dem Krieg gegen den Irak Ausdruck einer gewandelten Position dieser Staaten und einer veränderten Konstellation innerhalb der NATO. Andererseits war die NATO 1999 noch im herkömmlichen Sinne als Militärbündnis in Erscheinung getreten: Die anderen Mitgliedsländer redeten mit, und die USA mussten politisch und in der unmittelbaren Kriegsführung auf diese Rücksicht nehmen.

Die Lage hatte sich mit dem Amtsantritt von Bush II und den Folgen der Anschläge auf US-Einrichtungen am 11. September 2001 verändert. Die USA waren bestrebt, global ein von ihnen bestimmtes imperiales Gefüge zu schaffen. Mit dem Krieg gegen den Irak ging es nicht nur darum, das Regime Saddam Husseins zu stürzen, sondern die islamische Welt zu transformieren. Es ging auch nicht nur um Öl, sondern um Geopolitik. Das Scheitern der USA in Irak und Afghanistan verhinderte weitere Kriege dieser Art. Obama hat die regulären US-Truppen aus dem Irak abgezogen. Das dort errichtete Regime sollte sich festigen. Inzwischen scheint auch das zu scheitern. Zerfall des Staates und Vordringen djihadistischer Kräfte sind schließlich die Folgen. Der Afghanistankrieg dagegen wurde fortgesetzt. Hier blieb nur noch Gesichtswahrung als politisches Ziel übrig. Der Abzug der meisten Militärkontingente des Westens rückt näher, die regierungsfeindlichen Kräfte erstarken wieder. Am Ende ist ebenfalls Staatszerfall das Ergebnis.

Unter Bush II wurde die NATO von den USA als politisches Bündnis genutzt, wenn die anderen Mitglieder die USA-Politik unterstützen, und sie wurde ignoriert, sofern sich Widerstände auftaten. Eine »Mitsprache«, wie während des Jugoslawien-Krieges, war weder gewollt noch akzeptiert. Die im November 2002 auf dem NATO-Gipfel in Prag beschlossene Erweiterung um weitere sieben Staaten - Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien - ging dann nicht mehr von einer Kriegsführungsfähigkeit der NATO als Militärorganisation in einem herkömmlichen Sinne aus. Vielmehr sollte sie, zusammen mit der Schaffung weltweit einsatzfähiger »NATO-Reaktionskräfte«, zu einer Art »Baukasten« mutieren, mit dem wie während des Irak-Krieges »Koalitionen der Willigen« gebildet werden.

Die NATO sollte dabei für die USA die Funktion behalten, Einfluss auf die europäischen Entwicklungen und Staaten zu nehmen. Dies wurde mit dem Beitritt auf weitere osteuropäische Länder ausgedehnt. Über die NATO wird zugleich die Umrüstung und weitere Aufrüstung der Armeen der neuen Mitglieder gesteuert. Dabei werden diese gleichsam von Kunden des Militärisch-Industriellen-Komplexes (MIK) Russlands zu Kunden des MIK der USA und teilweise Westeuropas. Geopolitisch wurde die strategische Landverbindung in Ost-Mittel-Europa zwischen Norwegen und der Türkei ausgebaut. Mit dem Hinweis auf Albanien, Mazedonien und Kroatien wurde bereits in Prag eine dritte Runde der Osterweiterung der NATO angekündigt. Albanien und Kroatien wurden 2009 in die NATO aufgenommen. Der Beitritt Mazedoniens liegt wegen des Namensstreits mit Griechenland auf Eis. Angestrebt wurde von Seiten der Bush II-Administration auch ein Beitritt Georgiens und der Ukraine. Das würde die NATO noch direkter an die Grenze Russlands bringen. Dieser Beitritt liegt nach dem Kaukasus-Krieg von 2008 ebenfalls auf Eis, ist aber weiter Teil des strategischen Kalküls.

Seit dem Prager Gipfel wurde die NATO ein Bündnisgefüge, das stärker politischen Charakter hat. Zugleich wurde sie unter Bush II »militärischer«, nicht im Sinne einer herkömmlichen Landesverteidigung, sondern im Sinne eines Rekrutierungsfeldes für »Koalitionen der Willigen« der USA. Dabei wurde sie zugleich »pro-amerikanischer«, wie die Unterstützungserklärungen mehrerer ostmitteleuropäischer-, südosteuropäischer und osteuropäischer Regierungen für den Irak-Krieg der USA gezeigt haben, die die US-Regierung gegen die politischen Positionen Deutschlands und Frankreichs zu nutzen versuchte.

Die EU hat sich mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam weiter auf dem Wege der Integration entwickelt. Die Spannungen zwischen der EU und den USA auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet haben mit dem Euro weiter zugenommen, schon deshalb, weil der Euro die Rolle des US-Dollar als Weltreserve-Währung unterminiert. Kurz nach dem Jugoslawien-Krieg beschloss der Europäische Rat, das höchste Organ der EU, den Aufbau einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Durch den Aufbau militärischer Fähigkeiten sollte die äußere Handlungsfähigkeit der EU erweitert werden. Aus dem Jugoslawien-Krieg wurde gefolgert, die EU sollte bei der Realisation außenpolitischer Interessen nicht auf die militärischen Kapazitäten der USA angewiesen sein. Deshalb wurde beschlossen, eine eigene Eingreiftruppe der EU zu schaffen. Die in Prag beschlossene Bildung von NATO-Reaktionskräften (NATO Response Force) war dagegen geeignet, diese Bemühungen der EU zu konterkarieren und wieder der Kontrolle der USA zu unterstellen. In den Jahren 2003/04 wurde eine feste Abstimmung zwischen NATO und EU vereinbart. Auf dem NATO-Gipfel 2009 wurde bekräftigt, Kooperation und Koordination zwischen NATO und den militärischen Entwicklungen der EU zu gewährleisten. US-Präsident Obama hatte deutlich gemacht, die Zusammenarbeit in der NATO zu präferieren und die EU-Europäer in Entscheidungen stärker einzubeziehen. Das hat seinen Preis, etwa in Gestalt des Druckes, das »Engagement« in Afghanistan zu verstärken, oder die Beziehungen zu Russland zu verschlechtern, auch wenn dies den wirtschaftlichen Interessen der EU-Länder widerspricht.

Die Osterweiterung von EU und NATO hat Einfluss auf die Entwicklungsprozesse im Osten Europas. Das Argument in Bezug auf einen NATO-Beitritt, das bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zum Beispiel in Polen und Ungarn eine Rolle spielte, lautete, man wolle nicht in einer »Grauzone« der Sicherheit zwischen NATO und Russland verbleiben. Mit der Osterweiterung der NATO verschwindet das Problem der »Grauzone« jedoch nicht, sondern es verlagert sich geografisch nach Osten. Es sei denn, alle verbleibenden Staaten im Kaukasus, die Ukraine, Belarus und Moldawien werden in die NATO aufgenommen - was die Spannungen mit Russland aber praktisch weiter vergrößern würde. Das ist eines der Kernprobleme der gegenwärtigen Krise um die Ukraine.

Die Europäische Union hat in Angriff genommen, ihren Einfluss nach Osten weiter auszudehnen. Mit der Ukraine sollte im November 2013 ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen abgeschlossen werden. Allerdings hatte der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch erklärt, parallel dazu mit der »Eurasischen Wirtschaftsunion« von Russland, Kasachstan und Belarus zusammenarbeiten zu wollen. Daraufhin hatte EU-Kommissionspräsident Barroso gefordert, die Ukraine müsse sich entscheiden, sie könne nicht gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit der EU und eine Zollunion mit Russland haben.

Nachdem Janukowitsch sich geweigert hatte, den Vertrag zu unterzeichnen, und neue Vereinbarungen mit Russland traf, sollten in Kiew veränderte Machtverhältnisse geschaffen werden. Der »Spiegel« schrieb: »Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin.« Die Geschichte sei aber »noch nicht zu Ende«. Es gehe »im Kampf um Kiew um viel mehr als freien Warenaustausch am Rand der Europäischen Union. Fast 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges geht es darum, wer es schafft, die früheren Sowjetrepubliken der Region in seinen Einflussbereich zu ziehen. Es geht um Geopolitik, um das ‚Grand Design’, wie es die Experten gern nennen.«2 Nach monatelangen organisierten Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz und am Ende blutigen Auseinandersetzungen wurde Präsident Janukowitsch gestürzt. Die EU-Kommission hatte die Amtsenthebung rasch anerkannt. Die neue Regierung, zu der auch erklärte Faschisten gehören, bekundete, sie werde die Ukraine in die EU führen. Der neugewählte Präsident Petro Poroschenko unterstrich dies bei seiner Amtseinführung am 7. Juni 2014.

Der »politische« Teil des Assoziierungsabkommens wurde von Seiten der Ukraine am 21. März 2014 in Brüssel unterzeichnet, der »wirtschaftliche« Teil am 27. Juni 2014 bei einem EU-Gipfel durch Poroschenko. Entsprechende Abkommen wurden ebenfalls mit Georgien und der Republik Moldau unterzeichnet. Die Anbindung dieser Länder an die EU ist vertraglich vollzogen. Eine feste Zusicherung auf spätere EU-Mitgliedschaft haben sie nicht. Damit gehören sie zur äußeren Peripherie des imperialen Zentrums EU nach Osten und sind gegen Russland in Stellung gebracht.

Den Gedanken des »Spiegel« aufnehmend folgt: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat stets die »Freundschaft« mit den USA beschworen, zugleich aber die Spielräume deutscher Außenpolitik insbesondere gegenüber den USA vergrößert. Programmatisch hat sie betont, Deutschland solle gestärkt aus der Finanz- und Euro-Krise hervorgehen. Heute ist es in einer dominierenden, hegemonialen Position innerhalb der EU. Gegenüber Russland hat sie stets die Menschenrechtskarte gespielt, aber auch die strategische Zusammenarbeit gepflegt. Nun wird unter Nutzung der USA die Ukraine aus dem Einflussfeld Russlands gelöst und in das der EU, das heißt Deutschlands, eingeordnet. Russland hat sich im Gegenzug die Krim genommen, was vom Westen mit Protesten quittiert wurde, aber am Ende ist Russland froh, die Beziehungen mit dem Westen, sprich Deutschland, weiter aufrecht zu erhalten.

Diese Neuordnung Europas ist ein weitreichender außenpolitischer Vorgang. Hier wird etwas realisiert, woran Deutschland in zwei Weltkriegen scheiterte. Dazu reicht es, dass die NATO im Hintergrund steht. Die Ukraine muss nicht Mitglied der NATO sein, um diese Neuordnung zu beglaubigen.