Tagesausflug mit Maxim

Eine Erzählung. Von Theodor Weißenborn

  • Theodor Weißenborn
  • Lesedauer: 8 Min.

Gestern ist der alte Schafstall in Crotet abgebrannt. »Vorbei!« ruft der Wind, der’s gesehen hat und der auch weiß, was morgen ist, weil er alles weiß, aber er sagt nur: »Heute ist heut!« und was morgen ist, das sagt er mir morgen und so immer fort.

Dies ist solch ein Tag, an dem die Luft leichter und frischer weht, du öffnest ein Fenster, und mit dem ersten Atemzug strömt eine kühle Wärme in dich ein, du fühlst dich emporgehoben und davongetragen, steigst empor mit den Lerchen und flatterst herab, bellst mit den Hunden, krähst mit dem Hahn der Ligauts, blätterst im Laub der Ulmen drunten am Tor und trappelst mit Monsieur Dignets Esel, der den gummibereiften Postwagen zieht, die Serpentine nach La Gazelle hinauf. Du siehst, wie der weiße Straßenstaub seine Hufe umweht, und hörst den weichen, mahlenden Laut der Räder im Sand und ein Klirren dann und wann, wenn eines der kleinen Hufeisen auf eine Steinscherbe trifft.

Theodor Weißenborn

...wurde 1933 in Düsseldorf als Sohn des akademischen Kunstmalers Karl Weißenborn geboren. Seine Mutter war Kunsterzieherin. Auch er studierte zunächst Kunstpädagogik, dann Philosophie, Germanistik und Romanistik. Später folgten Studien der medizinischen Psychologie und Psychiatrie.

Als Schriftsteller hat sich Theodor Weißenborn seit Anfang der 60er Jahre vor allem durch zahlreiche sozialkritische Prosawerke und Hörspiele einen Namen gemacht. Zu seinen 33 derzeit lieferbaren Publikationen gehören die Romantrilogie »Zeiten des Abschieds«, die Erzählungsbände »Fragmente der Liebe«, »Das Verschwinden der Zeit am Nachmittag« sowie eine sechsbändige Gesamtausgabe seiner Werke im Carl Böschen Verlag.

Die Erzählung »Tagesausflug mit Maxim« hat uns Theodor Weißenborn als Erstveröffentlichung zur Verfügung gestellt.

An einem solchen Morgen lege ich mir in Gedanken zurecht, was zu tun ist: herauszufinden, was geschieht, wenn ein Ich zum Du wird, wenn ich du sage zu mir, und wenn das Du mir antwortet und zum Ich wird - muss mir da nicht schwindeln? Und wissen möcht ich, woher Regen, Wasser und Wind ihre Stimmen haben, die zu mir sprechen, und was es ist, das sie mir sagen, und warum meine Rede zurückbleibt hinter der ihren oder ihr vorauseilt und sie auf die eine wie die andere Weise verfehlt. Und wissen möcht ich, warum ich wissen will, ob’s nicht genügt, zu lauschen und zu schauen und das Geschaute und das Erlauschte zu bestaunen, wobei allenfalls zu besorgen wäre, dass ich’s nicht störe, so wie es selbst mich sein lässt als den, der ich bin.

Und wie ich noch grüble, da beginnen auch die Hufe des Esels zu sprechen und der Hammer in Monsieur Riqueurs Schmiede drunten im Dorf, und die sagen: »Wir trappeln und hämmern und damit genug!« Und der Wind pustet mir ins Ohr und sagt: »Flausen, nichts als Flausen! Die Ros’ blüht ohn’ Warum, das hat sie selbst mir gesagt.« Und wenn also Wind und Rose und Esel kein Warum haben - warum dann ich? Darum!

Und wie immer es sei - an diesem Tag steige ich mit Rucksack und Hund auf den Gipfel des Mont Gris, weil ich hoffe, dass der Wind mir dort Flötentöne beibringt, die ich, wenn nicht selbst erzeugen, so für andere Flötisten notieren kann. Der Hund ist Maxim, welcher Name ein Bonus auf seine Zukunft ist, denn noch ist er ein Knabe von fünf Monaten mit großen Pfoten und wenig Bergerfahrung. Wenn er unterwegs Seitenstechen bekommt, werde ich ihn im Rucksack tragen, und dabei wird er mir die Krempe des Strohhuts zerbeißen. Zunächst gehen Mensch und Hund auf den Huf- und Reifenspuren von Esel und Postwagen die Straße in Richtung La Gazelle hinauf, wobei der Hund nach den Düften des Esels schnobert und der Mensch kindischerweise darauf bedacht ist, seine Tritte genau auf die Mitte der rechten Reifenspur zu setzen. Zu sehen, wie dies gelingt, das erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung, zumal in gelegentlicher Rückschau, wenn er sich umwendet und sieht, wie akkurat sich das Muster seiner Schuhsohlen auf dem des Reifens abzeichnet.

Dann, an der Ecke seines Gemüsegartens, sagt der Mensch dem Hund, wo’s lang geht: nämlich hinter dem Grenzmäuerchen auf weglosem Wald- und Wiesengelände bergan in zunächst sanfter, dann immer schrofferer Steigung bis zur Baumgrenze, wo nach den Fichten auch die Maulbeerbäumchen aussterben, nur mehr dorniges Gestrüpp gedeiht und ein wenig Gras auf Kalk- und Mergelgrund, den Geröll bedeckt und auf dem der listenreiche Odysseus im Zickzackkurs weitersteigt. Dabei hat er den Blick am Boden, plant Schritt um Schritt in meterweiter Voraussicht, setzt Fuß vor Fuß, damit er nicht umknickt, möglichst flach auf den knirschenden Schutt, sucht das Solide und meidet das Lose, während der kleine Maximus keine Verstiegenheit scheut, trabt, wo er besser im Schritt ginge, lieber einer Hummel nachschaut, als auf den Weg zu achten.

Und schon hat er ein Steinchen zwischen den Zehen, klagt mit Geheul und hält dem Menschen, dem großen Heiler, den rechten Vorderlauf hin. Er wird entsteint, ermahnt und getröstet, reckt die Nase gegen den Wind und rennt fürbass.

Oberhalb von La Gazelle, wo aus dem Kamin des letzten noch bewohnten Hauses ein Räuchlein aufsteigt, kommen wir auf einen Schafspfad, der sich zwischen herabgestürzten Felsbrocken und steil ragenden Klippen hinaufwindet. Trappelnd und trommelnd haben die Hufe der Tiere hier in Jahrhunderten einen Hohlweg in die Abbruchkante der Hochfläche gefräst. Der Weg endet, indem er sich oberhalb des Engpasses in alle Richtungen verzweigt, seine letzten Spuren verlaufen sich im Weidegras ...

Mein Ziel hält sich in erreichbarer Nähe: der Mont Gris, der über Châtelet und dem Val d'Auvergne aufragt, einer der kleineren Vulkanberge mit längst verschüttetem Krater, aber noch erkennbarem kreisförmigen Grat. Hier, auf der Höhe, werde ich lagern den langen Nachmittag lang, im Fels- und Wolkenschatten, mit Schmetterling, Käfer, Habicht und Hund - und einem Salamander, der auf Maxim zugleich faszinierend und haarsträubend wirkt.

Sattgetrunken haben sich Mensch und Hund am Wasser der Senke am Fuß des Bergkegels, wo auch die Schafe trinken, am reinsten Wasser, das du auf Erden noch finden magst, weich, kühl und durchsichtig klar bis auf den Mergelgrund. Wer trinkt, will auch essen, schwierig wird nun die gerechte Teilung eines einpfündigen Brotes und einer handlangen, armdicken Wurst. Der Mensch, obwohl er die schlechteren Zähne hat, muss dabei vom Stück abbeißen, dem Hund werden mundgerechte Bissen serviert, die der Mensch mit dem Daumennagel für ihn abkneift. Der Mensch isst manierlich, der Hund happt, schmatzt, schlingt - schmecken tut's beiden.

Nach dem Mittagessen liegen Mensch und Hund im Schatten einer Felswand und lauschen mit halbem Ohr den Stimmen des Windes, der das Haar und den Grind der Erde streichelt, die Harfe der Gräser durchhaucht und in den Halmen lispelt, und wie sie widerstandslos einschlummern, werden sie auch mühelos wieder wach im Wehen des Windes, denn der ist immer noch da, nur frischer, lebhafter als zuvor. Sein Atem umflattert die Felszinnen in der Höhe, tönt dunkel in einer Höhlung, durchfaucht einen Kamin, und er hält den Ton so lang, dass du denkst: Nun geht ihm die Puste aus! - Aber er weiß schon, an welchen Stellen er kaum merklich Luft holen, blitzschnell nachfassen und den Lungenbalg füllen kann, und wieder geht sein Gebläse, versetzt er in Schwingung, was mitschwingen mag ... Und so immer fort, so heute wie morgen, und wenn Mensch und Hund schon gegangen sind, wird er immer noch wehen, und schleifen und reiben und das Zerriebene fortblasen ... Auf dem Rücken liegend, in der Kratermulde ins Himmelblau blickend, in dem Wolken quellen, sehe ich, wie der Wind auch dort in der Höhe sich müht, das Bestehende zu wandeln, das Ruhende zu wecken, das Träge zu lüften, und es bedarf langer Sekunden genauen und geduldigen Hinschauens, bis mein Auge die winzigen Veränderungen im Detail des scheinbar unbeweglichen Ganzen wahrnimmt.

Da ist ein Kaspisches Meer, das seit einer Minute von den Küsten zur Mitte hin austrocknet. Der weiße Sandstrand rückt vor, schließt sich enger, immer enger zusammen um ein schrumpfendes Restgewässer, einen kleinen Tümpel, der nun gänzlich verdunstet, ein letztes Pünktchen Blau - nun ist's weg, verschlungen vom Weiß des Sandes, gelöscht und getilgt für immer. Wo war doch die Stelle, an der dies vor eines Wimpernschlags Dauer geschah? Du erkennst sie nicht wieder, sie ist verschwunden wie der Raum mit dem Ding, das er barg, wie die Zeit mit dem Vorgang, den sie maß. Aber da öffnet sich ein Quell, ein See, ein Binnenmeer in der Wüste Australiens, ein neues Blau erscheint, das sich weitet und dehnt, der Kontinent zerreißt, seine Schollen driften auseinander wie die Festlandschollen Afrikas und Südamerikas, und Raum und Zeit sind wieder da mit den Dingen, an die das Auge sich hält, die es erkennend ins Leben ruft, indem es sie hervorhebt aus dem Grund - das Weiß aus dem Blau oder das Blau aus dem Weiß - die Dinge lehren das Auge sehen, indem sie sich zeigen, und ohne die Dinge wäre das Auge blind, und ohne das Auge könnten die Dinge nicht einen Augenblick sein.

Und wie hier ein Ganzes sich auflöst, verschmelzen an anderen Orten Teile zu neuer Ganzheit, die ihrerseits zerfällt, und wie da und dort Zerstreutes sich sammelt, wird hier die Herde auseinandergetrieben, irrt das Verlorene umher und klagt, bis es wieder geborgen im Stall ist, kräuselt sich der Sinn und kreuzen sich die Sinne wie die Richtungen von Wille und Widerwille, und scheint der Wind, der das eine wie's andre bewirkt, selbst nicht zu wissen, was er will - nur anders soll's werden, anders, partout, als es war! ...

Maxim, der sich vernachlässigt fühlt, apportiert Steinchen und blafft. Was am Himmel geschieht, ist ihm zu hoch, sein Mensch, dieser Langweiler, soll sich gefälligst bewegen, und was die Metamorphose der Wolken betrifft, beende ich daher meine Ausführungen mit einem Hinweis auf Goethe, der schon vor mir erkannte, das Getrennte zu einen und das Geeinte zu trennen, sei das Wirken der Natur. Und in der nächsten Lektion, der vergleichenden Anatomie gewidmet, befassen wir uns dann mit der Entdeckung des Zwischenkiefers.

Auf dem Heimweg, im Abendwind und bei schwindendem Licht, findet Maxim am Ortsausgang von La Gazelle zwar keinen Kieferknochen, aber ein Horn, das eine Kuh verloren hat und nicht wiederhaben will, so dass er’s behalten darf, und er trägt’s als Beutestück hoch vor sich her und wird lange daran zu nagen haben und es grollend verteidigen gegen Madame Ligaut, wenn sie Hausputz macht.

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