nd-aktuell.de / 06.09.2014 / Kommentare / Seite 23

Subversiv in Bewegung

In Sankt Petersburg existiert eine lebendige Queer-Tango-Szene - allen Schwierigkeiten zum Trotz

Elke Koepping

Im Laufe der Geschichte wurde der tänzerischen Bewegung immer wieder ein umstürzlerisches Potenzial zugesprochen: Salontänze wie der Walzer und der Tango galten zur Zeit ihrer Entstehung als frivol und für die höhere Gesellschaft nicht geeignet. Die Tabuisierung dieser Volksvergnügen durch die Anstandswauwaus der Haute-Volée führte jedoch nur dazu, dass sie gerade aus diesem Grund auch in den gehobenen Schichten binnen kürzester Zeit en vogue waren.

Wer sich heute als Tangofan zu erkennen gibt, gehört einer gutbürgerlichen gebildeten Schicht an. Allen Errungenschaften der weiblichen Emanzipationsbewegung zum Trotz werden dabei in der Tangoszene mit Verve die Rollenklischees von führenden Männern und folgenden Frauen verteidigt. »Hier kann eine Frau noch so richtig Frau sein«, heißt es da. In diesem klar geregelten System kommt die Möglichkeit zur Rollenverteilung nach Eignung und individuellem Geschmack nicht vor. Wer sich dagegen ausspricht und anders handelt, gilt als exzentrisch und wird belächelt - oder geschnitten. Das ist in seiner Rückwärtsgewandtheit schon wieder skandalträchtig. Die Gegenbewegung, das rollenoffene Tanzen oder der Queer Tango, entstand daher um die Jahrtausendwende in der schwullesbischen Kultur, die aus verständlichen Gründen Rollenklischees wenig abgewinnen kann.

Die Tango-Renaissance, die Mitte der 80er Jahre einen Siegeszug um die ganze Welt antrat, machte im Zuge des Globalisierungstrends auch vor den Ländern des ehemaligen Ostblocks nicht halt. So haben sich vor rund 15 Jahren gerade in den russischen Zentren des Neokapitalismus, Moskau und Sankt Petersburg, florierende Tangoszenen etabliert. Sankt Petersburg, die europäischste, offenste unter den russischen Städten, war der Ort, an dem vor vier Jahren auch der Queer Tango seine ersten Schritte wagte.

Ausgerechnet Sankt Petersburg - das ist auch die Stadt, in der auf Initiative des rechtskonservativen Politikers Witali Milonow von der Partei »Einiges Russland« das sogenannte Gesetz gegen »Homopropaganda« seinen Anfang nahm. Nach der Unterzeichnung durch den Staatspräsidenten Wladimir Putin am 30. Juni 2013 gingen zahlreiche Meldungen von brutalen Übergriffen rechter Nationalisten auf Schwule und Lesben in Russland durch die internationalen Medien. Die selbsternannten Moralapostel fühlen sich dazu durch den Staat nun legitimiert. Die Polizei steht oft genug daneben und schaut zu. Das Gesetz stellt dabei nicht Homosexualität an sich unter Strafe, sondern deren »Propagierung« gegenüber Minderjährigen. Doch was genau zählt eigentlich als Propaganda?

»Im Grunde kann alles als Propaganda gelesen werden«, sagt Natalia Merkulova. Sie hat das Queer Tango Festival Sankt Petersburg Ende August mitorganisiert. »Wenn wir unsere Tanzkurse und das Festival über Flyer publik machen, dann fällt das sicher unter Propaganda. Für uns ist es ein Riesenproblem, wenn Teenager Informationen über den Queer Tango in die Finger bekommen. Es ist absolut unmöglich, sie in unsere Kurse aufzunehmen. Das ist eine Schande, schließlich sind sie mit 16 oder 17 alt genug, um für sich selbst zu entscheiden.« Seit 2013 tanzen Homo-, Bi- und Transsexuelle in Russland also den Queer Tango mit einem Bein im Knast. Diese Problematik hat bereits zu einer Spaltung innerhalb der winzigen Queer-Tango-Community in Petersburg geführt.

Marina Stepanova, die unter dem Pseudonym Marina Ventarron unterrichtet und Tangobälle organisiert, liebt es, die Norm zu unterwandern. Ständig denkt sie sich neue abgefahrene Konzepte für Tango-Events aus, etwa Kostümbälle nach Motiven aus »Alice im Wunderland« und »Peter Pan«. Oder sie organisiert Aktionen wie den Queer-Tango-Flashmob in der Petersburger U-Bahn. »Die Polizei hat sogar versucht, uns dran zu hindern.« Sie sind abgehauen und haben an anderer Stelle weitergetanzt. Ihre lockere Einstellung geht manchen zu weit. Und so haben sich aus den gemeinsamen Anfängen zwei Queer-Tango-Gruppen entwickelt: Marinas »Queer Tango Club« und »Salida«, die Schule, der Natalia angehört. Beide Gruppen bestehen mehrheitlich aus Frauen - die Männer lernen lieber bei Yury Panov aus Moskau. Der Flirtfaktor ist da für sie höher. Klar, das gehört auch dazu.

Katya Sirko, die zu Marinas Gruppe gehört, ist genau wie Marina der Ansicht, dass die Überzeugungsarbeit im Kleinen auch die Einstellung in der Köpfen der Gesellschaft gegenüber Lesben und Schwulen verändern wird. »Was wir machen, ist nicht politisch, wir halten keine Transparente hoch, auf denen steht, ›Ihr müsst alle gleichgeschlechtlich tanzen‹. Alles, was wir tun, ist miteinander zu tanzen«, sagt sie. »Unsere Bälle sind offene Veranstaltungen, jeder kann kommen und zugucken. Da sind vielleicht mal ein paar Leute, die sich wundern, wo eigentlich die Männer sind. Aber keiner sagt, ›Oho, diese Homos machen da verbotenes Zeugs!‹ Wir laden sie dazu ein, die Welt mit unseren Augen zu betrachten, und sie begreifen am Ende die Schönheit, die wir darin sehen und über unseren Tanz transportieren.«

Natalia sieht die Lage skeptischer. »Die Situation verschlechtert sich eher noch, weil die Leute durch dieses Gesetz darüber nachdenken, dass Homosexualität was Böses sein könnte. Wenn sich früher zwei Frauen in der U-Bahn geküsst haben, hat das keiner zur Kenntnis genommen. Es gab einfach keine Kategorie dafür. Plötzlich sehen sie es alle als ein Problem an, das sie persönlich bedroht. Das ist auf der anderen Seite auch so etwas wie PR. Früher wurde gesagt, ›Wofür braucht ihr Homos eine Parade, ich kann nicht erkennen, wo euch irgendwelche Rechte verweigert werden.‹ Homophobie und die gewaltsamen Übergriffe sind nun mehr als deutlich wahrzunehmen.« Aus ihrer Sicht entsteht daraus zumindest ein gesellschaftlicher Diskurs, der bisher nicht vorhanden war. »Queer Tango zu tanzen, ist politisch im Sinne des feministischen Slogans aus den 70ern: ›Das Private ist politisch.‹ Die Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder im Tango decken sich im Kern mit den erzkonservativen Werten in der russischen Gesellschaft. So gesehen ist das geschlechterrollenoffene Tanzen reine Anarchie. Das ist das, was mich daran interessiert.« Damit befindet sich der Queer Tango in Russland in guter Gesellschaft, schließlich blickt der Anarchismus dort auf eine lange Geschichte zurück.