nd-aktuell.de / 16.09.2014 / Politik / Seite 5

Als ein Mädchen keines wurde

»Ich bin nicht Mann oder Frau«, sagt Vanja und möchte den Geburtseintrag »inter« statt »weiblich«

Hagen Jung
Geschätzt 80 000 Menschen in Deutschland sind intersexuell, wurden nicht eindeutig als Mädchen oder Junge geboren. Dennoch steht in ihren Geburtsurkunden entweder »weiblich« oder »männlich«.

Mit der Rathausroutine aus Bestatter- und Brautpaarbesuchen im Standesamt des 15 000-Seelen-Ortes Gehrden nahe Hannover war es vorbei, als dort ein 25-Jähriger namens Vanja auftauchte. Er legte einen Antrag vor, der seine Heimatstadt über Niedersachsen hinaus in die Schlagzeilen brachte. Er? Sein Bart bejaht das männliche Pronomen. Doch in seiner Geburtsurkunde steht »weiblich«. Denn Vanja war augenscheinlich als Mädchen zur Welt gekommen. Aber er entwickelte sich nicht zu einem solchen. In einem Alter, in dem alle Anzeichen der Weiblichkeit erwartet werden, blieben diese aus. »So eine richtige Pubertät gab’s eben nicht«, erinnert sich Vanja im Gespräch mit »nd«. Es wurde offenbar: Vanja ist intersexuell. Vanja lebt dieses Sosein bewusst und möchte es auch dokumentiert wissen. Er hat vor kurzem beim Standesamt beantragt, seine Geburtsurkunde möge geändert werden: »Inter/divers« soll dort künftig zu lesen sein, nicht »weiblich«.

Die Standesbeamtin wird das nicht entscheiden können. Sie ist an das Personenstandsrecht gebunden, und das besagt: Nur »weiblich« oder »männlich« darf im Geburtsdokument stehen. Oder aber das Geschlecht wird gar nicht notiert. Dieses Weglassen ist seit dem 1. November 2013 auf Wunsch von Eltern möglich, deren Kinder nach diesem Termin geboren wurden und nicht eindeutig als Mädchen oder Junge erkennbar sind. Auch kann für sie »das noch nicht definierte Geschlecht« mit einem »X« im Reisepass eingetragen werden. Damit »ist jedoch nicht die Schaffung eines dritten Geschlechts verbunden«, betont ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Es handele sich nur »um einen vorübergehenden Eintrag, der bis zur Festlegung eines endgültigen Geschlechtseintrags genutzt werden kann«.

Der Verzicht auf einen Eintrag und auch das »X« im Pass ist keine Lösung, meint Vanja. Er will seinen Wunsch auf »inter« wenn nötig bis zum Bundesverfassungsgericht durchfechten. Die Standesbeamtin hat signalisiert, dass sie seinen Antrag an das Amtsgericht Hannover weiterleitet.

Dort und womöglich in weiteren Instanzen werden sich Juristen mit Vanjas Weg vom Mädchen zu dem Menschen befassen müssen, der von sich sagt: »Ich bin mir sicher, dass ich nicht Mann oder Frau bin. Und so, wie ich mich als Kind nicht ausreichend weiblich genug verhalten habe, um als Mädchen anerkannt zu werden, so müsste ich mich auch jetzt ständig verstellen, um als Mann akzeptiert zu werden.«

Vanjas Fall könnte in die Rechtsgeschichte eingehen, obwohl es bereits ein ähnliches Verfahren gegeben hat. Der Intersexuelle Michel Reiter war 2003 vor dem Landgericht München gescheitert, als er den Geburtseintrag »zwittrig« statt »weiblich« für sich erstreiten wollte. Doch: »Weder die Menschenwürde noch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, noch der Gleichheitsgrundsatz gebieten es, eine weitere Geschlechtskategorie als eintragungsfähig anzusehen«, so urteilte die Kammer seinerzeit. Zudem sei ein solcher Eintrag »nach geltendem deutschen Recht unbekannt und würde zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen«.

Vanja lässt sich durch diese elf Jahre alte Entscheidung nicht entmutigen. Er hält ihr aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse entgegen. Danach lasse sich die derzeitige Praxis des Geschlechtseintrags nicht mehr aufrecht erhalten. Die Festlegung auf weiblich oder männlich sei sogar verfassungswidrig, verstoße gegen das Verbot von Diskriminierung wegen der Geschlechtszugehörigkeit.

Wurde oder wird Vanja wegen »inter« diskriminiert? »Es gibt schon mal dumme Sprüche. Aber meistens sind die Leute eher unsicher, sie weichen dem Thema aus, und auch das wirkt irgendwie diskriminierend.« Auf Unwissen stoßen Intersexuelle immer wieder. Oft werden sie mit Transsexuellen und Transvestiten in einen Topf geworfen. Oder es heißt: »Das sind doch so welche wie Conchita Wurst.« Doch dieser Sänger und Travestie-Künstler, der im Mai den Eurovision Song Contest gewann, ist keineswegs intersexuell.

Wie fremd die physische und psychische Situation intersexueller Menschen einer breiten Öffentlichkeit ist, zeigen auch Leserbriefe. Sie erschienen, nachdem Vanjas Antrag durch die Medien publik wurde. »Männlich« oder »weiblich« seien »amtliche Ordnungsbegriffe und wichtig für eine funktionierende Gesellschaft«, schreibt jemand und meint: »Wie sich der Einzelne fühlt, ist dessen Problem.«

Das Wissensdefizit ist der politischen Ebene wohl bekannt. Abhilfe in Niedersachsen will die rot-grüne Landtagsmehrheit schaffen, indem sie die Schulen zum Behandeln des Themas im Unterricht auffordert. Allen Bundesländern sollte dazu Mut gemacht werden, hatte die SPD im Sommer 2013 im Bundestag beantragt. Die anderen Oppositionsparteien unterstützten das, die damals regierende schwarz-gelbe Mehrheit aber lehnte ab.

»Die haben beides«, lautet oft die landläufige Umschreibung des Bildes, dass sich manche vom Intersexuellen machen. Doch die Vorstellung von einem Menschen sowohl mit voll ausgebildetem Penis als auch mit Vagina ist falsch. Die tatsächlichen Varianten sehen anders aus. So wird zum Beispiel ein Kind mit Scheide geboren und demzufolge als Mädchen identifiziert. Doch im Inneren des Körpers liegen männliche Keimdrüsen, während Gebärmutter und Eierstöcke nicht entwickelt sind. Das wird oft erst erkannt, wenn sich zur Pubertätszeit kein Brustansatz zeigt und die Menstruation ausbleibt. Oder: Der Mensch hat sowohl Eierstöcke als auch Hoden. Wie dies die Gestaltung der äußeren Genitalien beeinflusst, ist von Fall zu Fall verschieden. Zwei Beispiele nur. Ursache für intersexuelle Entwicklung sind zumeist Besonderheiten im Hormon- und Chromosomensystem der Kinder.

Jahrzehntelang war es üblich, und es wird durchaus auch heute noch praktiziert kleine Kinder schon früh operativ »anzupassen«, wenn das äußere Genital am Geschlecht zweifeln lässt. Vielfach wurden dabei »Mädchen gemacht«, weil sich leichter etwas wegschneiden als etwas formen lässt. In welcher Richtung sich die Psyche des Menschen später entwickelte, erschien dabei offenbar zweitrangig. »Solche Operationen sind total schlimm«, meint Vanja. »Aber das passiert nach wie vor, obwohl alle mit dem Problem befassten Selbsthilfeorganisationen sagen: So eine OP schadet mehr, als dass sie irgendwie hilft. Das Kind sollte später selbst über seine Identität entscheiden!«

Ein Verbot dieser chirurgischen Eingriffe wird zum Beispiel vom Verein »Intersexuelle Menschen« gefordert. Er vertritt die Interessen von Betroffenen, ebenso wie die Initiative, die Vanja bei seinen Bemühungen unterstützt. »Dritte Option - für einen dritten Geschlechtseintrag« nennt sie sich. Auf ihrer Internetseite schildern Intersexuelle in Videoclips, wie sie ihre besondere Identität empfinden. So etwa: »Ich weiß, dass ich manchmal eine Frau bin, manchmal ein Mann und manchmal irgendwas dazwischen. Ich würde mich selbst definieren als weder noch und beides ein bisschen. Ich will wahrgenommen werden als das, was ich bin: als ein Mensch!«

Das soll sich nach Ansicht vieler Intersexueller auch praktisch auswirken, zum Beispiel in Formularen. Wird dort die Angabe des Geschlechts gefordert, stehen zumeist nur zwei Kästchen zur Wahl: weiblich oder männlich. »Es sollte eine dritte Möglichkeit geben, ›inter/divers‹ nämlich«, fordert Vanja. Er weiß: »Es gibt Länder, wo das möglich ist.« Australien und Neuseeland, Indien, Bangladesch und Nepal gehören dazu.

Auch in Deutschland sind, allerdings selten, Formblätter mit einer dritten Option zu finden. So kann in Bayern auf Anträgen für Mietzuschuss das Geschlecht »unbestimmt« angekreuzt werden. Besonders problematisch ist der Eintrag auf der Krankenversicherungskarte. Lässt er nur auf weiblich oder männlich und nicht auf eventuelle körperliche Besonderheiten des Intersexuellen schließen, würde sich in einem Notfall die Gabe von Medikamenten an »Mann« oder »Frau« orientieren. Das könne zu gefährlichen Fehldosierungen führen, warnt der aus Wissenschaftlern zusammengesetzte Deutsche Ethikrat.

Der hat 2012 im Auftrag der Bundesregierung eine Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen erarbeitet, und auch er plädiert darin gegen »geschlechtszuweisende« Operationen im frühen Kindesalter. Und er mahnt, Intersexuelle sollten nicht rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister dem Geschlecht weiblich oder männlich zuzuordnen. Ihnen sollte, wenn sie es möchten, im Geburtsregister der Eintrag »anderes« ermöglicht werden. Noch gibt es diese dritte Option nicht. Den Weg zu ihr könnte Vanjas Vorstoß frei machen.