nd-aktuell.de / 20.09.2014 / Kultur / Seite 32

Auftrieb unter den Flügeln

Ein ehemaliger Fernsehmann schreibt im brandenburgischen Prieros Ortsgeschichte: eine »Horst-Sauer-Production«

Danuta Schmidt

In seinem 1000-Seelen-Dorf kennt ihn jeder. Alle wissen, dass er der Mann vom »Kessel Buntes« war. Der Mann ist ein »Kessel Buntes«. Als das Dorf im Landkreis Dahme-Spreewald vor 25 Jahren, drei Monate vor dem Fall der Mauer, 675 Jahre feierte, stemmte Sauer eine ganze Revue auf dem Dorfplatz, der mal ein Rundling war. Schon zur 650-Jahrfeier recherchierte er als 27-Jähriger die Heimatgeschichte. Jetzt, zur 700-Jahrfeier, schrieb er die gesamte Chronik - fast 80 Seiten lang. Prieros und Horst Sauer, das ist eine Symbiose auf Lebenszeit.

Er kennt heute nicht nur die »Polizeiruf«-Schauplätze des 1974 in Prieros am Wehr gedrehten Filmes »Am hellerlichten Tag«, sondern auch die besten Postkartenmotive zwischen Dahme, Schmölde, Langer See, Streganzer See und Tiefer See. Und er sieht unauffällige, aber bedeutende Details: Horst Sauer zeigt auf den Kirchturm, dem seit 1875 die Uhr fehlt. Die Zeit ist seither nicht stehengeblieben. Sie ist nicht da. Die Dinge haben sich überschlagen.

40 Leute sind im Heimatverein Prieros. Doch als es um die Geschichtsaufarbeitung zur Jahrfeier ging, war der Diplom-Journalist allein auf weiter Flur. Keine Zeit für Vergangenheit. Und für Fragen. Doch zu einer Antwort waren alle bereit. »Es gibt keinen echten Prieroser, mit dem ich nicht in Kontakt stehe.« Früher schnackte man über den Gartenzaun, erfuhr Geschichten. Heute fahren die meisten mit dem Auto durch das Dorf. Horst Sauer hält sie an.

Es wäre ein mehrere Tage füllendes Programm, mit ihm über seine Arbeit und seine brandenburgische Heimat zu sprechen. Horst Sauer ist 77 Jahre alt. Der Mann ist ein Gestalter, ein Lebensgestalter, der sich wenig aus den Händen nehmen lässt. Früher gestaltete er Fernsehbilder. Heute notiert er Ortsgeschichte, er kramt im Gedächtnis, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, im Zentralen Evangelischen Kirchenarchiv, er bohrt die Nachbarn an.

1874 kam Theodor Fontane an Prieros vorbei. Fontane schipperte an Bord der Sphinx von Berlin-Köpenick nach Teupitz. In seinen Wanderungen durch die Mark beschreibt er den ersten Tag an Bord. Am Morgen des zweiten Tages wehte kein Lüftchen und das große Boot kam nur behäbig voran. »Erst in Prierosbrück«, schreibt der große deutsche Schriftsteller, »machte sich der Wind wieder auf.« Horst Sauer ist genau an dieser Stelle geboren. »Dieser Satz war für mich immer wie ein Auftrieb unter den Flügeln.«

Der Ortschronist kennt den »Schadlischka«-Berg - vor 4000 Jahren der Ursprung dieser slawischen Ansiedlung »Prerocz«. Er weiß, wo die Gebeine der ersten Siedler lagen, wo die berühmte Dorfbäckerei Enters stand, seit wann und wie lange hier Bier gebraut wurde. Am 1955 eröffneten Heimathaus, dessen Fundstücke der Heimatforscher Arnold Breithor seit den 20er Jahren zusammentrug, zeigt er auf einen Keramik-Freibrandofen. »Der Neubau nach historischem Vorbild ist eine ›ABM-Horst- Sauer-Production‹«. Originalton Sauer. Englisch hat er tatsächlich gelernt, auf der Dorfschule. Die meisten lernten Russisch.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das ehemalige Fischer- und Bauerndorf Prieros als Erholungsort erschlossen. Jäh unterbrochen wurde das Leben in der Sommerfrische durch den Zweiten Weltkrieg. Das Dorf wurde gehasstes Land. Horst Sauer zeigt auf den »Kriegskessel von Prieros«, der in den Wäldern gleich hinter der heutigen Bootswerft 1945 in den »Kriegskessel von Halbe« mündete. »Wir Kinder spielten auf herumstehenden Panzern, Motorrädern und Militärfahrzeugen. Wir fanden echte Panzerfäuste und Maschinenpistolen.« Es sei ein großes Glück gewesen, dass niemand durch die scharfe Munition verletzt worden sei. Als die Rote Armee kam, war Horst Sauer acht Jahre alt: »Ich habe mit den Soldaten große Käseräder die Straßen entlang gerollt (Hitlers Reichsbutter-Verteiler Schött hatte ein großes Lager im Ort), grünen Bohnenkaffee geröstet, Mehl aus Säcken eingetütet, Kühe geschlachtet und über dem Soldaten-Lagerfeuer Bratkartoffeln geröstet und Rindfleisch gebraten.«

Die unberührt wirkenden Seen und Wälder machten Prieros immer auch zu einem Sommeridyll für Politprominenz und künstlerische Avantgarde: Anna Seghers schrieb hier ihre Erzählung »Das Schilfrohr«, der Maler Max Lingner lebte in den 50er Jahren am Streganzsee. Wilhelm Pieck wohnte von 1954 bis 1959 im »Waldhaus«, traf Berühmtheiten aus aller Welt. Er lud jedes Jahr Dorfbewohner zu Kaffee und Kuchen auf seine Terrasse. Diese Zeit war für den 16-Jährigen Horst Sauer Sturm und Drang: Im August 1953 nahm er zum ersten Mal eine 8-mm-Filmkamera in die Hände. Er filmte in einer Graureiher-Siedlung, tote Hose. Also inszenierte er mit Steinchen kleine Wellen auf dem Wasser. »Als Unternehmer-Sohn - meine Mutter hatte einen Dorfladen, mein Vater eine Schlosserei - wusste ich, was Eigeninitiative bedeutet.«

Der Prieroser ging zur Ausbildung als Labortechniker ins benachbarte Kolberg ans »Zentralinstitut für Funktechnik«, wurde Kameraassistent in Adlershof, später Kameramann. Leonid Breshnew stand vor seiner Linse, Walter Ulbricht, später Michail Gorbatschow, Edward Heath. Er arbeitete mit allen großen Künstlern der so genannten ernsten Musik und der Unterhaltungsmusik zusammen: Theo Adam, Gisela May, Manfred Krug, Helga Hahnemann, Udo Jürgens. »Ich war immer ein Macher und habe immer wieder aufs Neue gefragt, was mit Live-Technik noch besser zu machen ist.« Im Mai 1963 stand der damals 26-Jährige an der Kamera bei der Fernsehinszenierung des »Tannhäuser« auf der Wartburg. »Wir produzierten zum ersten Mal in der Fernsehgeschichte mit elektronischen Kameras am Originalschauplatz.«

Ab 1973 war Horst Sauer Chef des Bereiches Unterhaltung/ Musik beim DDR-Fernsehen. Mehr als 400 Fernsehpremieren flimmerten pro Jahr über den Bildschirm. Auch hier war Prieros ganz dicht dran: »Am Tiefen See hatte der Komponist Gerhard Honig sein Domizil. Einmal kam er mit der Idee, Thüringer Volksmusik mit Herbert Roth fernsehtauglich zu machen.« Der Entschluss, daraus eine Serie werden zu lassen, sei nach 20 Minuten gefallen. Daraus wurde ein Dauerbrenner: der Oberhofer Bauernmarkt.

Horst Sauer war auch als Programmdirektor ein Teammensch. »Pauschalisierter Kollektivismus war allerdings nicht mein Thema.« Er war dafür bekannt, dass er von jedem etwas forderte. Sendungen erfinden, das sei zu 99 Prozent Teamarbeit gewesen und habe nichts mit den »Ich«- bezogenen Bildschirmplauderern von heute zu tun. Der Fernsehmann zitiert gern Goethe, aber auch seine Schwiegertochter, eine Psychologin, wenn es um seine sozialen Kompetenzen geht: »Du bist ein Mensch mit Harmoniebedürfnis.« Trotzdem hat er immer um das beste Ergebnis gestritten.

Der Mann mit dem feinen Humor scharte ein Team von äußerst kreativen Köpfen um sich, u.a. den Erfinder der Kinderzeitschrift »Frösi«, Dieter Wilkendorf. Der sagte einmal: »Dein Arbeitsstil ist wie ein Magnet. Es bleiben nur die hängen, die Talent und Beharrlichkeit haben.« Ihm war wichtig, nicht nur eigene Begabung zu entwickeln, sondern sie auch bei anderen zu fördern. Unter Fernsehchef Heinz Adamek rekrutierte er Kameramänner aus den Fotozirkeln der Republik. Er arbeitete mit den großen Kunsthochschulen und bekannten Malern und Grafikern zusammen, zuletzt bei der Kreation eines neuen Corporate Designs des DDR-Fernsehens (DDR/F). 1973 gab’s den »Nationalpreis für Kunst und Literatur«. Für die bildkünstlerische Entwicklung beider DDR-Programme bekam er seinen wichtigsten Preis.

Die »Frankfurter Rundschau« hat den Prieroser einmal als den Mann mit der Rockefeller-Karriere bezeichnet, der es vom 8-Klassen-Dorfschüler zum Fernsehdirektor geschafft hat. Horst Sauer legt großen Wert auf echte Superlative. Nicht nur, dass er von der Pike auf alles gelernt hat. Er brauchte dazu weder den Dienst bei der NVA oder den Kampfgruppen, noch eine Funktion bei Partei oder Staatssicherheit. Vielleicht waren es die Anfangsjahre, die Gründerjahre des Landes, die dies möglich machten. Es waren mit Sicherheit die Aufbaujahre des Fernsehens in der DDR.

Als die Mauer vor 25 Jahren fiel, »arbeiteten wir in Adlershof rund um die Uhr, damit am 10. November 1989 insgesamt 115 Fernsehstationen aus der ganzen Welt ihre Korrespondenten an die gefallene Mauer stellen konnten.« Auf dem Arbeitsplatz lag immer die Weltkarte mit ihren Zeitzonen, anhand derer auch längere Korrespondenten-Berichte in einem 24-Stunden-Rhythmus realisiert werden konnten - damals eine große Herausforderung für Kameraleute, Planer, Technologen, aber auch für Richtfunk- und Tontechniker. Am 12. März 1990 wurde aus DDR/F wieder der Deutsche Fernsehfunk (DFF) und Horst Sauer, 53-jährig, dessen Chefregisseur. Das ganze Team der Neuen-Länder-Kette produzierte interessante Formate wie Günter Gaus’ Gesprächsreihe »Zur Person« oder das »Dresdener Gespräch«, bei dem Sauer neben anderer politischer Prominenz Willy Brandt ins Bild setzte.

Als Mitte 1990 Kohls Parteigenosse Rudolf Mühlfenzl vom Bayerischen Rundfunk nach Berlin geschickt wurde, war der DDR-Chefregisseur gerade beim SWR in Stuttgart: »Ein Kollege aus der Intendanz nahm mich zur Seite und sagte: Jetzt bekommen Sie einen vor die Nase gesetzt, der so schwarz ist, dass er selbst im Kohlenkeller noch einen Schatten wirft.« Noch ein Jahr lang baute der alte Fernsehhase den rbb in Potsdam mit auf, zunächst unter dem Namen »Landessender Brandenburg«(LSB). Von hier aus kam die gesamte Parlamentsberichterstattung, aber auch das Polizeimagazin PM (heute: Täter, Opfer, Polizei) oder die »Sportparty«, eine Talkreihe mit Kristin Otto.

Am 1. Januar 1992 war das Adlershofer Fernsehen für alle Mitarbeiter plötzlich Geschichte. Der Mann, der fast 40 Jahre dabei war, wurde von der Zeit eingeholt. Nun entschieden andere. Sauer, bislang auf der Überholspur, wurde abrupt ausgebremst. Er wechselte das Gleis: Zwei Jahre lang betreute er als PR-Berater die Berliner Modelleisenbahnfabrik »TT Zeuke Modelleisenbahn«, die heute sehr erfolgreich in Sebnitz produziert.

Prieros, die Heimat, blieb nach der Wende ein Dorf zum Luftholen. Fahrradwege wurden gebaut, Seen erschlossen, so mancher Berliner wurde Prieroser. Es entstanden ein Chor, die Feuerwehr und vier ABM-Projekte, u.a. die Gruppe »Märkisches Handwerk«. Gemeinsam mit örtlichen Handwerkern hat der Fachmann Horst Sauer u.a. den bereits erwähnten Ofen restauriert (»Horst-Sauer-Production«) und lebensgroße Sandmännchen für die Kitas hergestellt. Kein Problem, er kannte »Sandmännchen« schließlich persönlich. Geblieben ist Horst Sauer: Entdecker, Fotograf und Journalist. Daher wird seine nächste »Production« ein Buch mit dem Titel »Prieros und der Rest der Welt« sein.