Schlaglöcher in neuem Licht

Ein Leipziger Label macht den Makel zum Designobjekt und verkauft Schlaglochlampen in alle Welt

  • Jenny Becker, Leipzig
  • Lesedauer: 6 Min.
Deutschlands Straßen sind vielerorts in einem schlechten Zustand. Doch die vielen Schlaglöcher bieten nicht nur Raum für Gemecker der Autofahrer, sondern auch für Kreativität.

Die Männer standen neben dem Schlagloch und warteten darauf, es endlich mitzunehmen. Sie hatten lange herumprobiert, wie das gelingen konnte. Im Dunkel der Nacht lag die Straße still und löchrig vor ihnen. Der Krater im Asphalt war ihnen aufgefallen, als sie aus der »Lola Bar« gegenüber kamen, mitten in einem Leipziger Wohngebiet. Er war tief genug, breit genug und auf seinem Grund kam markantes Kopfsteinpflaster zum Vorschein. Stefan Hölldobler, der Produktdesigner, dachte: »Das ist die ideale Form!« Sie gossen einen zehn Liter Eimer Gips in das Loch und als die Masse im Lauf einer halben Stunde langsam erhärtete, stieg weißer Dampf in den Nieselregen auf. Es war der Beginn einer wundersamen Verwandlung: vom Schlagloch zur Designerlampe.

Stefan Hölldobler, 30, schaut auf den fleckigen Asphalt, dorthin, wo das Schlagloch gedampft hatte. Er wirkt nachdenklich, mit schmaler Brille und Bart, aber man sieht ihm an, dass er ein Macher ist. Zollstock in der Tasche, Sägemehl am schwarzen Rollkragenpullover. Er ist einer, der sich beim Anblick einer schlechten Straße nicht die Haare rauft, sondern überlegt, wie man das nutzen kann, was ohnehin da ist: die Löcher. Der Krater vor der »Lola Bar« ist längst zugeteert. Aber in Hölldoblers Wohnung, in einem Gründerzeitbau ein paar Ecken entfernt, hängt er als weißer Lampenschirm von der Schlafzimmerdecke. Die Lampe erinnert an eine Austernschale, außen buckelig, innen glänzend. Wenn man genau hinschaut, erkennt man noch die Abdrücke einzelner Pflastersteine. »Es ist wie eine kleine Auferstehung«, schmunzelt Hölldobler. »Was als Loch im Boden klaffte, schwebt nun an der Zimmerdecke.« Ein ungeliebtes Nebenprodukt der Gesellschaft wird zum schicken Wohnaccessoire.

Was wohl Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt dazu sagen würde? Der plant die Einführung einer Maut in Deutschland, um die Instandhaltung der Straßen zu gewährleisten. Die Maut-Pläne werden gerade aufgeregt diskutiert. Schon im April war der Zustand der Straßen zum Gesprächsthema geworden. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) hatte eine zusätzliche Abgabe für Reparaturen gefordert, die als »Schlagloch-Soli« bekannt wurde. Wie die meisten Menschen sah er die Bruchstellen ausschließlich als Ärgernis. Seine Lösung: Mehr Geld solle in die Ausbesserung der Straßen fließen. »Wenn jemand einen besseren Vorschlag hat, dann heraus damit«, so Albig.

Die Schlaglochlampen von Hölldoblers Designkollektiv »die Fabrik« regen zumindest zu einem Perspektivwechsel an. Aus einem Negativ entsteht ein Positiv - im wahrsten Sinne des Wortes. In nächtlichen Aktionen, wenn die Straßen leer sind, fahren die Fabrikanten in einem VW-Bus zu den freiliegenden Stellen und fangen deren Formen in Gipsabdrücken ein. Zu Beginn blieb da schon einmal ein Loch mit Gips gefüllt, weil der Abdruck nicht mehr heraus kam. Dann entwickelten sie ein Verfahren mit Gurten, um die angetrockneten Plastiken aus der Straße zu heben. Einige haben 35 Zentimeter Durchmesser, andere 75 Zentimeter. In manchen erahnt man sogar Spuren von Straßenbahnschienen, die unter dem gesprungenen Asphalt zum Vorschein kommen. Auf dieser Grundlage werden später in einem Thermoverfahren die Lampenschirme aus cremefarbenem Biokunststoff geformt, der Blick wird auf die schönen Seiten des Makels gelenkt: die Einzigartigkeit eines jeden Schlaglochs.

Stefan Hölldobler führt in seine Werkstatt. 2011 hat er eine alte Leipziger Fabrikhalle aufgekauft und zusammen mit einem Tischler, einem Blechner und einem Elektrotechniker »die Fabrik« eingerichtet. Seitdem stellen sie dort die Lampen und andere Produkte her. Das Anwesen hat einen verwachsenen Garten und einen bunten Lattenzaun. In der Halle riecht es nach frischem Holz, das eifrige Kreischen einer Kreissäge erfüllt den Raum. Von der Decke hängen geschwungene Möbel, die das Kollektiv aus Pappe fertigt, drei Schlaglochlampen baumeln glänzend über einem Arbeitstisch. Jede trägt ein Schild, auf dem ihr Preis und ihr Name vermerkt sind. Die Lampen werden nach der genauen Adresse des Schlaglochs benannt: »Geygerstraße 17, Berlin« heißt eine, »Gießerstraße 3, Leipzig« heißt diejenige, die dampfend vor der »Lola Bar« entstand.

Das Produkt trifft den Nerv der urbanen Mittelschicht, die sich ihre Umgebung gerne mit Ironie aneignet und alles liebt, was Individualität ausstrahlt. Die Hängeleuchten kosten zwischen 150 und 350 Euro, die meisten werden auf Designmessen verkauft. Mittlerweile sind sie nicht nur in Deutschland, sondern in Städten auf der ganzen Welt verstreut. Die einstigen Schlaglöcher aus Berlin oder Leipzig leuchten in England, Schweden, der Schweiz, den USA und sogar in Singapur.

Neulich hat ein Käufer aus London versucht, sein Schlagloch mit Google Street View zu finden. Hölldobler freut das, er mag es, wenn Menschen geistig zurückverfolgen, wo das Produkt seinen Anfang nahm. »Man soll den individuellen Weg nachvollziehen können, von einem bestimmten Ort bis ins eigene Wohnzimmer«, sagt er. »Das ist das Gegenteil von Massenproduktion.« Pro Schlagloch werden darum nur wenige Lampenschirme hergestellt. Danach ist die Gipsform in der Werkstatt kaputt, das Loch in der Straße zugeteert, übrig bleiben nur die fertigen Lampen in den Wohnungen. »Wir betreiben eine Art Spurensicherung«, sagt Hölldobler. Das Designkollektiv entwickelt Produkte immer nach dem Prinzip der Umnutzung. An der Wand hängt ein Regal, das aussieht wie ein gestreiftes, abstraktes Kunstwerk. Es ist aus Resten von Sperrholzmöbeln entstanden.

Wer mit Hölldobler in der Werkstattküche Espresso trinkt, wird staunen, wie ausführlich er über Schlaglöcher philosophieren kann. Sie tragen die »Ästhetik des Alltags« in sich, schwärmt der Produktdesigner. »Die Menschen sind Teil des Herstellungsprozesses. Sie verändern unbewusst den öffentlichen Raum, indem sie mit ihren Autos den brüchigen Belag abtragen.« Er denkt ernst über solche Dinge nach, ohne das Ergebnis zu ernst zu nehmen. »Unsere Lampen sind etwas skurril und natürlich lösen sie das Straßenproblem nicht. Aber sie werfen ein anderes Licht darauf.«

Überhaupt seien ihre Produkte womöglich alle ein wenig albern. »Albernheit ist in Kunst und Design weit verbreitet.« Ihm macht diese humoristische Arbeit Spaß und auch unter den Messebesuchern sorgen die Lampen für Heiterkeit. Die Leute schmunzeln: »Kommt doch mal zu uns in die Stadt, wir haben die schönsten Schlaglöcher Deutschlands!« Einmal habe jemand vorgeschlagen, eine Delegation zum Verkehrsministerium zu entsenden und eine Schlaglochlampe als Geschenk zu überreichen. Gemacht habe das dann doch niemand.

Der dort residierende Bundesverkehrsminister Dobrindt hat übrigens während der Debatte um den »Schlagloch-Soli« gesagt, es hänge maßgeblich von der Modernisierung der Straßen und Brücken ab, ob »Deutschland Innovationsland bleibt oder Stagnationsland wird«. Vielleicht liegt es aber eher daran, wie viele Menschen sich trauen, einfach einmal eine alberne Idee umzusetzen.

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