Werbung

Eiskammer, Mullbinden und Säurefraß

In Leipzig bemühen sich Spezialisten um den Erhalt bibliophiler Schätze. Sie sind per Notruf zu erreichen

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Leben historischer Buchbestände in den »Gedächtnisinstitutionen der Gesellschaft« ist zuweilen abenteuerlich - aber nicht hoffnungslos.

Es gibt den Feuerwehrnotruf, die Polizei-Hotline, den medizinischen Notfalldienst - und es gibt den Notruf des Zentrums für Bucherhaltung (ZfB). »Sieben Tage die Woche und rund um die Uhr«, so dessen Geschäftsführer Dr. Manfred Anders, sei sein Team für die meist hochbetagten Patienten erreichbar. Denn was seine 35 Leute bieten, suche selbst außer Landes seinesgleichen: Durchweg hoch spezialisierte Chemiker, Restauratoren, Ingenieure und Buchbinder beherrschen nicht nur alle Facetten der Erhaltung bibliophiler Schätze, wie Entsäuerung, Schimmelbeseitigung, Papierrestaurierung und Tintenfraßbehandlung. Sie forschen auch in diesem Metier, sie arbeiten an internationalen Projekten mit und haben ihr komplette Technik selbst entwickelt.

Noch zehn Jahre nach dem Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar sind so auch hier die Erinnerungen an diese schnelle Eingreiftruppe hellwach. Denn ein Großteil der geretteten Bücher ging sofort nach Leipzig. Und sobald hier ein neuer Lkw mit löschwasserdurchnässten oder verkohlten Bänden vorrollte, »lief es bei uns selbst die Nacht durch rund«, erinnert sich Anders.

Der Auftrag an das ZfB lautete seinerzeit: Bestmögliche Erstversorgung des unwiederbringlichen Kulturgutes. Der studierte Chemiker wusste sofort: Um tropfnasse Bücher für ihre spätere Restaurierung zu retten, müssen sie binnen 24 Stunden tiefgefroren werden. »Denn bei minus 20 Grad kann Schimmel - die größte Gefahr bei feuchtem Papier - nicht wachsen«, erläutert er. Also vereiste man alle durchweichten Klassiker in speziellen Gefriertrocknern, um das Nass direkt vom eis- in den gasförmigen Zustand zu sublimieren.

Mit Ruß und Schlamm kontaminierte Bände wurden zuvor feucht gereinigt und stark deformierte Werke zudem banderoliert, damit sich der Buchblock wieder richten konnte. Denn sei er erst verzogen, lasse er sich nach der Trocknung nicht mehr korrigieren, so Anders. Tausende Bücher umwickelten seine Leute von Hand straff mit Mullbinden, um sie wieder in Form zu bringen. »Wir hießen bereits Bücherklinik, weil wir allen Bindenvorrat der Apotheken in und um Leipzig aufgekauft hatten«, schmunzelt er. Alles in allem seien um die 85 000 Bände aus dem Anna-Amalia-Fundus durch ihre Hände gegangen.

Der Brand in Weimar sensibilisierte zugleich Politik und Öffentlichkeit für einen »noch sorgsameren Umgang mit den Gedächtnisinstitutionen der Gesellschaft«, wie es Anders nennt. Doch erlebte dies als einen eher zähen Prozess. Denn bereits 2002 war sein Haus ähnlich akut gefragt, als die erste »Jahrhundertflut« in Sachsen auch viele Bibliotheken traf. »Danach erging schnell manch‘ Ruf nach einem besseren Schutz wertvoller Archive«, erinnert er sich. »Doch jene, deren Sammlung auf einem Berg steht, bewegte das vielleicht noch wenig«, meint er etwas spitz. Dann aber folgte der Brand in Weimar und 2009 der Einsturz des historischen Stadtarchivs in Köln. Ganz zu schweigen von Kriegen, wo man teils »bewusst versucht, das Erinnerungsgut von Völkern auszulöschen, indem man nationale Kulturarchive zerstört«. Erst der Summe all dieser Ereignisse habe es bedurft, das Bewusstsein für mehr Umsicht zu entwickeln.

Doch der Experte sieht bereits eine »weitere Zeitbombe« in Bibliotheken, Archiven und Museen ticken: Säurefraß. Denn seit etwa 1850 würden Bücher, um das Auslaufen der Schrift zu verhindern, mit Alaun (statt zuvor tierischen Leimen) getränkt. Und die hierin enthaltenen Schwefelsäureteilchen führten bei langer Lagerung zum Zerfall des Papiers. Zwischen 50 bis 70 Prozent der historischen Bestände in Deutschland wären damit »versäuert«. Drum entwickelten die sächsischen Experten ein effizientes und zugleich bezahlbares Verfahren zur Massenentsäuerung. Selbst ausländische Sammlungen lassen hier nun Raritäten zukunftsfest machen, und das will etwas heißen. Denn weltweit, so beobachtet Manfred Anders, gebe es eine »ausgeprägte Abneigung, nationale Kulturschätze über Grenzen zu verbringen«.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal