Im Aktenberg gefangen?

»Die Schuld der Anderen« - Inga Wolframs ungewöhnlicher Film zur Stasisunterlagenbehörde

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Der beste Beitrag zum ermüdenden Dauerthema ist ohnehin ein Stasi-Witz, den der Schauspieler Jürgen Holtz erzählt (und wie er ihn erzählt, das sollte man sich auf Youtube ansehen!). Ein Stasi-Mann observiert einen Hauseingang und als er abgelöst wird, erstattet er Meldung: Soundsoviel Personen sind hineingegangen und soundsoviel herausgekommen. »Wenn jetzt noch zwei Personen hineingehen, dann ist keiner mehr drin!« - Und Holtz fügt hinzu: »Ich bin überzeugt davon, dass das immer noch so ablauft. So was stirbt ja nicht aus.«

Es ist die absurde Logik von Apparaten, vor der man sich hüten sollte, denn sonst sitzt man eines Tages wie in Kafkas Schloss gefangen und bemerkt vielleicht (oder auch nicht), dass der eigene Computer längst nicht mehr der eigene, sondern der eines x-beliebigen Geheimdienstes ist. Nun, dann viel Spaß beim wachsenden Informationschaos!, so könnte man da sarkastisch ausrufen, auch hinzufügen, dass alle Aktenkilometer die DDR nicht vor ihrem Untergang bewahren konnten. Doch das Thema ist tatsächlich ernst, weil gar nicht rückwärtsgewandt: In welchem Verhältnis sollen Sicherheit und Freiheit in der modernen Informationsgesellschaft stehen? Und welche Fragen gehören auf eine ganz andere Ebene als die nachrichtendienstliche, sind vorrangig politische, soziale und kulturelle Fragen? Hat die quälend ausufernde Stasi-Debatte verhindert, dass auch darüber gesprochen wird?

Darum möchte man im fünfundzwanzigsten Jahr des 89er Herbstes eigentlich endlich mal von etwas anderem reden als von IMs und Stasi-Offizieren. Überhaupt nicht immer nur vom Ende der DDR, sondern auch einmal wieder von ihrem Anfang, den Gründen und Umständen ihrer Entstehung, den Krisen und Chancen, dem, was alles auf geistig-kulturellem Gebiet entstand in diesem nicht älter als vierzig gewordenen Staatswesen. Denn der Ur-Impuls des 89er Herbstes hieß schließlich Reform des Sozialismus, war ein verfassungspatriotischer Zorn der Gesellschaft gegen die Machtanmaßung der SED, als »führende Partei« zugleich der Staat sein zu wollen. Auch der Staat hat sich an die Verfassung der DDR zu halten, aber er missachtete sie ständig auf selbstherrliche Weise! - Darum ging es anfangs bei den Demonstrationen, die vor allem Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit forderten.

Aber nun reden wir seit einem Vierteljahrhundert, wenn es um die DDR geht, vor allem über das Ministerium für Staatssicherheit, dessen Akten-Hinterlassenschaft allerdings tatsächlich monströs ist. Die Akten wurden vom MfS produziert, nicht von der Stasi-Unterlagenbehörde, das sollte man bei allem Streit über Sinn und Unsinn dieser Behörde nicht vergessen. Aber die Frage des Umgangs mit den Akten, die die DDR der Bundesrepublik vererbt hat, ist nicht eben allein Angelegenheit einer Behörde, sondern die der gesamten Gesellschaft.

Und im Umgang mit dieser Akten-Frage ist Inga Wolframs Dokumentation »Die Schuld der Anderen« nun ein Neuansatz gelungen, der nicht übersehen werden sollte. Beginnen wir mit dem Danach. Friedrich Schorlemmer, einer der Zeitzeugen im Film, sagte in der Diskussion nach der Premiere, es sei doch seltsam, in der DDR habe er sich immer so verhalten, als ob es keine Stasi-Spitzel gäbe. War das Selbstbetrug oder angewandte Freiheit?

Ist das in den letzten fünfundzwanzig Jahren ausreichend bedacht worden? Schlagworte wie »Unrechtsstaat« haben dabei wenig Aufklärung über die geschichtliche Dimension der Frage »Was war die DDR?« gebracht. Inga Wolframs Ansatz in ihrem Film über die Stasi-Unterlagenbehörde wohnt eine bemerkenswerte Horizonterweiterung inne: Wie ist man in anderen Ländern, in denen sich gesellschaftliche Umbrüche vollzogen haben, mit dem Akten-Erbe der Geheimdienste verfahren und welche Folge hatte dies dort?

Inga Wolfram blickt darum auch nach Südafrika. Dort hinterließ die Apartheid eine immer noch offene Wunde, die das Land teilt. Von der Geheimpolizei Gefolterte können und wollen nicht verzeihen, trotz extra eingesetzter Kommissionen, die für Wahrheit und Versöhnung sorgen sollten - die Schwarzen im Lande fühlen sich weiterhin um ihre Lebenschancen betrogen. Da spürt man noch heute viel Hass.

Ganz anders in Russland, wo man seine sowjetische Vorgeschichte anscheinend im Expresstempo zu vergessen versucht. Und überall dort, wo die russischen Geheimdienste sich zurückzogen, wie im Baltikum oder in der Ukraine, hinterließen sie nicht ein Blatt beschriebenes Papier. Ist das nun besser? Kleine Gruppen von Bürgerrechtlern versuchen, die Erinnerung wachzuhalten, demonstrieren vor ehemaligen Geheimdienstbehörden, in deren Kellern sich Zellen befanden. Aber kaum jemand beachtet diese Demonstranten.

Dagegen wirkt es fast vorbildlich demokratisch, dass in Deutschland jeder seine Akte, so er eine besitzt, auch einsehen kann - nicht beim BND oder Verfassungsschutz, aber immerhin beim nicht mehr existenten Ministerium für Staatssicherheit der DDR (abzüglich jener vermutlich immer noch geheimen Akten, die die Politik der Bundesrepublik gegenüber der DDR besser erklären könnten). Dennoch ist die bei uns gängige Praxis sehr viel transparenter als das, was in anderen Ländern üblich ist.

Die drei Chefs, die die Stasi-Unterlagenbehörde bislang besaß, stehen natürlich auch hier ausgiebig vor der Kamera. Für sie ist ihre Arbeit eine lupenreine Erfolgsgeschichte. So der präsidial umsonnte Joachim Gauck, die katechetische Marianne Birthler und auch Roland Jahn. Jedoch werden Unterschiede hörbar. Während bei Marianne Birthler der Ton angesichts dieses deutschen Spitzel-Trauerspiels immer noch unverständlich triumphal klingt, sind bei Roland Jahn nachdenklichere Töne hörbar, sein soeben erschienenes autobiografisches Buch heißt »Wir Angepassten«, ein Titel, den sich Marianne Birthler vermutlich verbeten hätte.

Inga Wolfram zeigt auch jene seltenen Versuche, Rahmen zu finden, in denen sowohl Spitzel als auch Bespitzelte im Nachhinein über das Thema Verrat sprechen. Annekatrin Hendel, von der gerade ein Film über den einstigen Prenzlauer-Berg-Szene-Star Sascha Anderson ins Kino kommt, hatte für ihre geplante »Verrats-Triologie« zuvor den Autor Paul Gratzik porträtiert, der erst Spitzel dann Bespitzelter der Stasi war.

Überhaupt, muss man sich nicht irgendwann selbst von der Rolle des Objekts der Bespitzelung befreien, eine andere - offensivere Art - des Umgangs damit finden, auch um das Opfer-Schema nicht lebenslang zu bedienen? Darüber sprach Inga Wolfram für ihren Film auch mit mir, aus mehr als zwei Stunden wurden zwei kurze Statements, die nun zu sehen sind, jedoch zusammen mit den die Rolle des Opfers sehr scharfzüngig ablehnenden Selbstaussagen des Gründers des BasisDruck-Verlages Klaus Wolfram genügte es, um Marianne Birthlers Missfallen zu erregen. Unberufene sprechen über »ihre« Behörde?! Inga Wolfram aber nimmt den Widerspruch, vorsichtig dosiert, in den Film hinein. Die Frage, ob das Wirken der Stasi-Unterlagenbehörde der inneren Einheit dieses Landes nun hilfreich oder hinderlich war, ist längst noch nicht abschließend beantwortet. Die mediale Stasi-Verdächtigungswelle Anfang der 90er Jahre, die die kritische DDR-Elite von Manfred Stolpe bis Stefan Heym, von Christa Wolf bis Heiner Müller moralisch zu diskreditieren unternahm, liegt als ein dunkler Schatten auf dem Aktenberg.

Es geht, so sagt Friedrich Schorlemmer in »Die Schuld der Anderen«, immer auch darum, ein rechtes Maß an Vergessen und Erinnern zu finden. Aber dazu bedarf es, zumal da die DDR nun historisch geworden ist, einer Art des Sprechens, die unmittelbare Betroffenheiten nicht zum alleinigen Maß macht.

Nebenbei: Man konnte in der DDR auch zum Opfer oder Täter werden, wenn man gar nichts mit dem MfS zu tun hatte - das politische System der DDR, das im Westen nicht zum Bildungsgut gehört, war weitaus umfassender und reichte von der SED (über deren wendungsreiche Geschichte sollte man vor allem reden!), den Blockparteien, der Freien Deutschen Jugend und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (was für vielversprechende Namen für was für eine zunehmende geistige Ödnis!) über die anachronistische Sammlungsbewegung namens Nationale Front, die heute vergessenen staatlichen Einrichtungen bis hin zu Manfred Ewalds mächtigem Deutschen Turn- und Sportbund oder der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik. Und wenn man von Repressionsorganen spricht, sollte man von der Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee nicht so schweigen, wie das heute geschieht, weil man immer nur über Mielkes Staat im Staate spricht. Die medial forcierte Fixiertheit auf das Ministerium für Staatsicherheit wirkt mittlerweile überaus denkfaul.

»Die Schuld der Anderen«, Arte, 30.9., 21.55 Uhr.

Von Gunnar Decker erscheint Anfang des kommenden Jahres im Hanser Verlag ein Buch zu Thema: »1965. Der kurze Sommer der DDR«

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal