nd-aktuell.de / 10.10.2014 / Kultur / Seite 14

Stalin und Hitler gleich schuld?

Kurt Pätzold streitet gegen alte und neue Fälscher der Geschichte des Zweiten Weltkrieges

Karl-Heinz Gräfe

Seit einem Vierteljahrhundert ist der Krieg wieder in Europa präsent. Das Erinnern an die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts kann Antwort geben, wie Kriege entstehen, welche gesellschaftlichen Kräfte sie auslösen und welche von ihm profitieren. Jenen gelingt es allerdings immer wieder, ihre Verantwortung vergessen zu machen. Die medialen und staatlich inszenierten Erinnerungen an 1914 und 1939 führten das soeben mal wieder deutlich vor.

Trotz des angesammelten Wissensmassivs von mehreren Tausend Gesamt- und Einzeldarstellungen wie Quelleneditionen sowie persönlichen Erinnerungen wächst das Bedürfnis nach einer gedrängten und zugleich orientierenden Darstellung über das letzte beispiellose globale Weltmassaker, in dem nach unterschiedlichen Schätzungen 60 bis 80 Millionen Menschen umkamen. Die in der Reihe »Basiswissen« des Kölner PapyRossa Verlages erschienene Publikation des Historikers und Faschismus-Forschers Kurt Pätzold wird diesem Anliegen gerecht.

Der Überfall auf Polen am 1. September 1939 markiert den Übergang von aggressiven Aktionen Deutschlands zum europäischen und 1941 zu einem weltweiten Krieg. Der Autor wirft die bis heute in den herrschenden Medien umgangene Fragen auf: Warum erhielten die extrem imperialistischen Kräfte in Deutschland die Chance, ihre Ziele mit kriegerischen Mitteln zu verfolgen? Existierten damals keine Alternativen?

Die Antworten darauf stellen kein Ruhmesblatt aus für die Regierenden in Großbritannien und Frankreich, aber auch nicht für die in Polen und Rumänien, die ebenfalls einen wesentlichen Anteil an der den Aggressor begünstigenden Ausgangssituation hatten. Diese Tatsache hindert jedoch Politiker der westlich-bürgerlichen Welt auch heute nicht, die Mär zu verbreiten, die Diktatoren Hitler und Stalin hätten sich die Kriegsschuld zu teilen. Die Wahrheit ist eine andere: Die wirtschaftlich und politisch herrschenden Eliten Nazideutschlands steuerten das Land gezielt in einen Welteroberungskrieg. Weder Moskau noch Paris oder London haben den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Allerdings ermunterten und beförderten die Westmächte durch ihre Befriedungspolitik die deutschen, italienischen und auch japanischen Aggressoren im Vorfeld.

Deshalb blieb die sowjetische Politik der kollektiven Sicherheit 1933 bis 1939 erfolglos. Als der Krieg im Sommer 1939 unvermeidlich wurde, entschied Stalin, durch einen Nichtangriffs- und sodann auch einen Freundschaftsvertrag im August/September 1939 sich aus dem Kriegsbrand herauszuhalten, die Sicherheit seines Landes im Blick. Anfängliche vermeintliche Erfolge dieser Strategie verführten den Kremlherrn zur folgenschweren Fehleinschätzung des Aggressors, wie zuvor schon Chamberlain und Daladier. 1941 kam es zum - für Stalin unerwarteten - Überfall auf die UdSSR.

Der Zwang zur Kürze führte hier nicht zum Verzeichnen des Gesamtbildes über den Zweiten Weltkrieg. Mit großer Sachkenntnis gelingt es Pätzold, alle wesentlichen politischen und militärischen Geschehnisse samt der Akteure anschaulich und differenziert darzustellen. Er spannt den Bogen von der Vorkriegsgeschichte bis zur Potsdamer Konferenz 1945, den Gerichtsprozessen von Nürnberg (1946) und Tokio (1948) sowie den Friedensschlüssen von Paris (1947) und San Francisco (1951).

In einem gesonderten Kapitel behandelt Pätzold den Massenmord an den Juden als Bestandteil der imperialistischen »Neuordnung Europas«, zu der weder Juden noch Roma und Sinti gehören sollten. Während das Naziregime Mittel- und Westeuropa blitzartig okkupierte, war das britische Inselreich nicht einnehmbar, dessen Widerstand weder durch barbarischen Bombenkrieg noch durch eine Invasion zu brechen. Infolge von Stalins Fehlkalkulation seit Herbst 1939 verfehlten sowjetische Verteidigungsmaßnahmen ihr Ziel, sie entsprachen nicht annähernd den potenziellen Möglichkeiten, die die UdSSR in den zwei Jahren ihrer »Atempause« und »Neutralität« erreicht hatte. Die Sowjetunion verfügte anfänglich über keine - wie zuvor, 1940, West- und Nordeuropa - widerstandsfähige Abwehrfront. Aber schon im Dezember 1941 offenbarte sich auch im Osten die Arroganz des faschistischen Aggressors, die in dem Irrglauben gipfelte, »dem deutschen Soldaten ist nichts unmöglich«. Erstmals erlebte die »siegreiche Wehrmacht« den Gegenangriff der Roten Armee, der in Stalingrad und am Kursker Bogen ein dauerhafter wurde und nun den Weg nach Ost- und Mitteleuropa öffnete. Pätzold würdigt auch das geschichtlich beispiellose Unternehmen der westlichen Alliierten mit der Eröffnung der von Stalin verlangten zweiten Front in der Normandie sowie mit der Offensive gegen Japan im Westpazifik.

Das Kapitel über die »Deutschen im Krieg« ist in einer Zeit, wo Politiker unentwegt entgegen ihrer Friedensbeteuerung neue globale Kriegsfronten eröffnen, höchst aktuell: Jahrelang erfuhren die Deutschen aus dem Munde ihres Reichskanzlers Friedensbekenntnisse - nicht ein einziger Quadratmeter Landes sei das Blut deutscher Soldaten wert. Vorerst wurde ja auch alles unblutig an das »Reich« angeschlossen: Saarland, Österreich, das Sudeten- und Memelgebiet, schließlich die Tschechoslowakei. Auch Polen und Westeuropa konnten blitzartig ohne größere deutsche Verluste erobert werden. Sicher waren die Kriegsfolgen in den ersten Kriegsjahren lästig, aber doch noch erträglich. Soldaten erhielten Heimaturlaub, Millionen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren an Stelle der eingezogenen deutschen Männer in Industrie, Landwirtschaft, Gewerbe und Dienstleistung getreten. Erst später geriet auch die deutsche Zivilbevölkerung in den todbringenden Kriegsstrudel.

Pätzolds Streitschrift wider alte und neue Geschichtsfälscher ist auch deshalb empfehlenswert, weil sie auf eine schon lange bestehende Lücke des Bildes über den Zweiten Weltkrieg aufmerksam macht - auf den Eroberungskrieg des deutschen Verbündeten Japan in Asien sowie das Ende des Krieges erst am 12. September 1945, nach den Kapitulationen der kaiserlichen japanischen Armee gegenüber den USA, der UdSSR und China. Aktuell ist sie auch wegen neuerlicher Weißwäsche der Kollaborateure, vor allem in den baltischen Staaten, der Ukraine, in Ungarn und Rumänien, nicht zuletzt wegen der wieder stärker gewordenen antikommunistischen und antirussischen Schuldzuweisungen. Das abschließende Kapitel ruft den beachtlichen Anteil der DDR-Historiker an der Weltkriegserforschung in Erinnerung.

Kurt Pätzold: Zweiter Weltkrieg. PapyRossa. 143 S., br., 9,90 €.[1]

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/article/1456728