Die Landkarte im Kopf

Medizin-Preis geht an drei Neurowissenschaftler für die Erforschung des hirneigenen Positionssystems. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war wie immer ein mit Hochspannung erwartetes Prozedere: Wer bekommt 2014 den Nobelpreis für Medizin? 263 Kandidaten standen diesmal zur Auswahl, davon waren 46 zum ersten Mal nominiert worden. Deren Namen freilich blieben geheim, und daran wird sich vermutlich auch in den nächsten 50 Jahren nichts ändern.

Wie das Karolinska-Institut in Stockholm am Montag mitteilte, geht der diesjährige Medizinnobelpreis je zur Hälfte an den britisch-amerikanischen Neurowissenschaftler John O’Keefe sowie das norwegische Forscherehepaar May-Britt und Edvard Moser. Alle drei wurden geehrt für ihre Untersuchungen zum Orientierungssinn und der Repräsentation von räumlichen Strukturen im Gehirn von Tieren und Menschen. »Es ist ein Preis für eine grundlegende Entdeckung dessen, wie unser Gehirn funktioniert«, kommentierte Göran K. Hansson, der Sekretär des zuständigen Nobelkomitees, die Entscheidung.

Edvard Moser saß gerade im Flugzeug nach München, als die Preisträger in Stockholm bekanntgegeben wurden. Er war daher gehörig überrascht, als er von Vertretern der Lufthansa an der Gepäckausgabe mit einem Blumenstrauß empfangen wurde. Dort wartete auf ihn auch der deutsche Neurobiologe Tobias Bonhoeffer vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried, an dem Moser sich die nächsten drei Wochen aufhalten wird. »Tobias, what is this? I don’t understand«, fragte Moser seinen Kollegen. »Dann hat er auf sein Handy geschaut und gesehen, dass der Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees ihn angerufen hat«, erzählte Bonhoeffer. »Da dämmerte es ihm. Aber er wusste es natürlich trotzdem noch nicht sicher.«

Auch May-Britt Moser war, wie sie sagte, schockiert über die Nachricht aus Stockholm. »Das ist so großartig«, fügte die Mutter von zwei Kindern hinzu, deren Biografie der lebendige Beweis dafür ist, dass man (zumindest in Norwegen) schon als Studentin Kinder bekommen und trotzdem Spitzenforschung betreiben kann. Heute arbeitet sie mit ihrem Mann an der University of Science and Technology in Trondheim. Den dritten Preisträger, John O’Keefe, erreichte das Nobelkomitee sofort, wie Hansson der Presse mitteilte: »Ich glaube nicht, dass er das erwartet hatte.«

Dabei haben die Forscher nichts weniger vollbracht, als ein Problem zu lösen, »das Philosophen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten beschäftigt«, konstatierte das Nobelkomitee: »Wie macht sich das Gehirn einen Plan von dem uns umgebenden Raum und wie navigieren wir unseren Weg durch eine komplexe Umwelt.« Einfacher gefragt: Woher wissen wir, wo wir uns gerade aufhalten? Und wie kommen wir von einem Ort zum anderen?

Immanuel Kant hatte bekanntlich angenommen, dass das Konzept des Raumes dem menschlichen Gehirn von Geburt an gleichsam eingeprägt sei und daher nicht von persönlichen Erfahrungen oder Lernvorgängen abhänge. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, wie John O’Keefe, der heute am University College in London forscht, bereits in den frühen 1970er Jahren festgestellt hatte.

Er griff dabei im Tierversuch mit Ratten auf eine neu entwickelte Methode zurück, die es ihm gestattete, die Aktivität der Nervenzellen mit implantierten Elektroden im lebendigen Organismus zu messen. Während sich die Versuchstiere frei in einem kleinen Irrgarten bewegten, richtete O’Keefe seinen Blick auf den etwa daumengroßen Hippocampus ihres Gehirns. Dort entdeckte er Nervenzellen eines bis dahin unbekannten Typs, die immer dann aktiviert wurden, wenn die Tiere sich an einem bestimmten Ort im Raum aufhielten. Befanden sich die Ratten woanders, dann waren andere Nervenzellen aktiv. O’Keefe schloss daraus, dass diese sogenannten Ortszellen (engl.: place cells) im Gehirn eine Art Landkarte des Raumes bilden.

In der Folge wurden von Neurowissenschaftlern weitere Zelltypen im Gehirn entdeckt, die das räumliche Orientierungsverhalten von Tieren mit bestimmen. Eine Frage konnte damit allerdings noch immer nicht hinreichend beantwortet werden: Was geschieht, wenn sich eine Ratte von A nach B bewegt? Die Ortszellen allein reichen für die Bewältigung einer solchen Aufgabe nicht aus. Den Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels fanden 2005 May-Britt und Edvard Moser. Bei Versuchen mit Ratten entdeckten sie die sogenannten Gitter- oder Rasterzellen (engl.: grid cells), die sich im entorhinalen Cortex befinden, einer Hirnregion nahe des Ortszellenareals des Hippocampus. Diese Zellen liefern eine Art Koordinatensystem, das es den Ratten ermöglicht, zielgerichtet zu navigieren. Anders als die Ortszellen wurden die Gitterzellen im Experiment immer dann aktiviert, wenn die Ratten eine Reihe von Raumpunkten passierten, die sich zu einem wabenförmigen Raster formten. Während die Tiere auf diese Weise den Raum virtuell erkundeten, feuerten ihre Gitterzellen umso schneller, je schneller die Bewegung erfolgte. Offenkundig speichert das Gehirn das hierbei Erlernte. Das erkennt man unter anderem daran, dass Ratten, die man mit den gleichen räumlichen Strukturen erneut konfrontiert, sich darin erstaunlich rasch zurechtfinden. Kurz zusammengefasst könnte man also sagen, dass das Wechselspiel von Orts- und Gitterzellen so etwas wie das »innere GPS des Gehirns« darstellt.

Bekanntlich sind in Tierexperimenten gewonnene Erkenntnisse nur mit höchster Vorsicht auf den Menschen übertragbar. Das ist in diesem Fall etwas anders. So wurde bereits vor gut zehn Jahren in einer Studie untersucht, wie sich bei Londoner Taxifahrern deren enorme Ortskenntnis auf die Struktur des Gehirns auswirkt. Ergebnis: Taxifahrer haben im Vergleich zu anderen Menschen einen signifikant größeren Hippocampus. Das wiederum legt die Vermutung nahe, dass das Volumenwachstum des Hippocampus, das bei dienstälteren Taxifahrern beobachtet wird, von einer steigenden Zahl von Orts- und Gitterzellen herrührt.

Kommt es bei neurologischen oder Kreislauferkrankungen zu einer Schädigung des Hippocampus, sind die betroffenen Menschen gewöhnlich nicht mehr in der Lage, sich problemlos im Raum zu orientieren. Ähnliches gilt auch für viele Alzheimer-Patienten, bei denen schon in einem frühen Stadium die Orts- und Gitterzellen absterben. Das hat zur Folge, dass an Alzheimer erkrankte Menschen sich häufig verlaufen. Zwar gibt es derzeit noch keine Möglichkeit, solche Veränderungen in bestimmten Hirnarealen zu beeinflussen oder gar rückgängig zu machen. Dank der prämierten Untersuchungen ist die Wissenschaft diesem Ziel aber ein beträchtliches Stück näher gekommen. Denn krankhafte Veränderungen des Gehirns lassen sich erst dann richtig verstehen und gegebenenfalls therapieren, wenn man weiß, wie das gesunde Gehirn arbeitet.

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