Auffrischender Wind bei stürmischer See

Kommt der Crash des kapitalistischen Wirtschaftssystems, fragt Karl Georg Zinn

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Die beiden industriekapitalistischen Jahrhunderte laufen aus, und die seit drei Jahrzehnten anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist ein Zeichen des dauerhaften Wachstumsrückgangs. Das Wachstum fiel im Mehrjahresdurchschnitt unter die Beschäftigungsschwelle. Das wird so bleiben. Die Nettoinvestitionsquote mag zeitweilig wieder zulegen, wenn es zum »Wiederaufbau« in den Depressionsökonomien des südeuropäischen Kontinentes kommt. Doch das setzt eine völlig andere Wirtschaftspolitik voraus: Revision des Neoliberalismus zugunsten einer Renaissance keynesianischer Nachfragepolitik.

Trotz der insgesamt als Stagnation zu bezeichnenden Situation setzt sich die Konjunkturbewegung fort. Das heißt: Das zyklische Auf und Ab der gesamtwirtschaftlichen Aktivität wird auch bei flachem Wachstumstrend nicht verschwinden. Kommt es zu einem Konjunkturabschwung, könnte das in einer ohnehin durch Arbeitslosigkeit, Verteilungsungleichheit und Pleiten charakterisierten Wirtschaft als ein neuer »Crash« wahrgenommen werden: Die Lage ist schlecht, und nun wird sie noch schlechter.

Es macht eben einen Unterschied, ob ein Konjunkturabschwung während einer Periode hohen oder niedrigen Wachstums eintritt - zumal, wenn die Wirtschaftspolitik ihr Pulver bereits in der vorhergehenden Konjunkturflaute verschossen hat und sich die Staaten für Banken- und andere Rettungsaktionen hoch verschuldet haben. Es versteht sich fast von selbst, dass weiteres Auffrischen des Windes bei einer bereits stürmischen See weit höhere Risiken mit sich bringt als die gleiche Zunahme der Windgeschwindigkeit vom Nullpunkt aus. Auf die Ökonomie übertragen bedeutet somit eine Verschlechterung in der bereits durch die Dauerkrise gebeutelten Wirtschaft, dass die Alarmglocken schriller klingen und selbst ein ganz normaler Konjunkturabschwung als Crash erscheint. Mangels des Willens oder auch realistischer Fähigkeit der Wirtschaftspolitik, dem Konjunkturabschwung mit herkömmlichen Mitteln à la Keynes zu begegnen, rutscht dann die Volkswirtschaft weit tiefer ab, als dies bei angemessenen Staatsinterventionen geschehen würde.

Die anhaltende Stagnation hat den Kapitalismus bisher nicht erschüttert, was immer auch alte und neue Kapitalismuskritik beibringt. Vielmehr lässt sich im Gegenteil eine Stärkung derart beobachten, dass die Verteilungsungleichheit wieder enorm zugenommen hat, seit der Neoliberalismus regiert. Die von Thomas Piketty vorgelegten Daten bestätigen - historisch ausgreifend -, was vielfach beobachtet und beschrieben wurde, nämlich die massive Umverteilung von unten nach oben seit etwa dreißig Jahren. Zugleich setzt sich die Konzentration fort, und ganz im Sinn der Marxschen Prognose gehen die Überlebenden aus Konkurrenz und Krisen gestärkt hervor.

Die Rede von der Unverzichtbarkeit des Wachstums ist massenwirksam - ganz im Interesse der Herrschenden. Denn wenn die Massen und die schwächelnden Organisationen, die Masseninteressen noch vertreten, erst einmal klar erkennen, dass das industriekapitalistische Wachstum keine Zukunft mehr hat, wird es notwendig, sich ernsthaft mit den progressiven Stagnationsentwürfen zu befassen. Dafür ist jene bisher verdrängte Hälfte des theoretischen und wirtschaftspolitischen Werks von John Maynard Keynes die erste Adresse. Er empfahl nämlich bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert, dem unvermeidlich eintretenden Wachstumsrückgang mit drei »einfachen« Heilmitteln zu Leibe zu rücken: Einkommensnivellierung, dauerhaft höhere Staatsnachfrage und kürzere Arbeitszeiten. Das Rezept ist probat, die Politik müsste es nur verschreiben - und da liegt das Problem. Letztlich ist die Wirtschaftsmisere und sind die echten oder vermeintlichen »Crashs« eben kein ökonomisches, sondern ein (macht-)politisches Problem.

Die Texte von Konicz und Christen sind unter dasND.de/krisenanalyse zu finden.

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