nd-aktuell.de / 13.10.2014 / Politik / Seite 10

Er fragt nicht: Was ist Kapitalismus?

Der französische Ökonom Thomas Piketty steht der herrschenden Wirtschaftsweise gänzlich positiv gegenüber. Woher kommt der Hype um sein Buch?

Stephan Kaufmann 
und Ingo Stützle

Warum machte ausgerechnet dieses Buch Furore, wenn doch so viele Studien, Bücher und durchaus auch leichter zugängliche Texte zum Thema erschienen waren? Als Erklärung für den Hype um Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« bieten sich mehrere Aspekte an:

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat zum einen das bis dahin herrschende Dogma von Kapitalfreiheit, Steuersenkung und Wettbewerbsfähigkeit unter Legitimationsdruck gesetzt. Zudem stellte sich aufgrund der prekären Staatsfinanzen die Verteilungsfrage neu, also die Frage, wer die Kosten der Stabilisierung zu tragen habe. Beide Punkte führten in der Polit- und Wirtschaftselite zu gegensätzlichen Positionen bezüglich der Besteuerung von Kapitaleinkommen und Vermögen.

Hinzu kommt, dass Piketty die Volksweisheiten »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen« oder »Wer hat, dem wird gegeben« mit enormem statistischen Aufwand empirisch und scheinbar politisch neutral beweist: »Die Zahlen sagen alles«, hieß es oft. Das Buch sei »nicht vom neuesten ›Denker‹ geschrieben, sondern von einem respektierten akademischen Ökonomen, der seine Theorie mit echten Zahlen untermauert. Das hatten wir schon lange nicht«, lobt sogar eine Investmentbankerin. Aufgrund seiner Stellung als Universitätsprofessor steht er zudem nicht im Verdacht, bestimmte politische Interessen zu verfolgen wie zum Beispiel der IWF oder die Gewerkschaften.

Vor dem Hintergrund dieses Punkts provoziert gleichzeitig Pikettys These, dass die tendenziell wachsende Ungleichheit kein dummer Zufall ist, sondern eine, der Wirtschaft innewohnendem Gesetz oder zumindest einer starken Tendenz entspringt. Diese Aussage provoziert deshalb, weil es damit prinzipiell nötig wird, politisch gegenzusteuern, was wiederum eine Diskussion darüber einschließt, wie dies geschehen soll. Piketty hat in dieser Frage einige Vorschläge gemacht, die nicht allen gefallen - vor allem nicht denjenigen, zu deren Lasten sie gehen würde (Vermögende), und denjenigen, deren wirtschaftspolitischen Glaubenssätzen solche steuerpolitischen Vorhaben widersprechen.

In der Debatte um Piketty waren deshalb auch Protagonisten zu hören, die sich gezwungen sahen zu reagieren, damit seine Vorschläge von politischen Entscheidungsträgern nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Das durchaus eingeräumte Phänomen der Ungleichheit, so lässt sich der Schluss ziehen, darf nicht von »den Falschen« thematisiert werden. Schließlich dürfe nicht der gleiche Fehler wie in den 1960er gemacht werden, wo die Debatte über Gerechtigkeit »falschen Propheten« überlassen wurde, denen dann große Teile der Bürger in ein »sozialistisches Schlaraffenland« nachlaufen wollten. So formuliert es Stephan Werhahn, Bundesvorstand der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU sowie Delegierter des Bundes Katholischer Unternehmer, in seinem Vorwort zu einer Auseinandersetzung mit Piketty. Sehen sich selbst überzeugte Gegner der steuerpolitischen Forderungen gezwungen, auf Piketty zu reagieren, passiert etwas, was sie eigentlich lieber vermeiden würden: Über Piketty und seine Thesen wird öffentlich und breit diskutiert.

Die erwähnte Feststellung, dass Ungleichheit gesellschaftlich unter Legitimationsdruck geriet und zudem schlecht für die Wirtschaft sei, hat zu einer Debatte innerhalb der gesellschaftlichen Eliten geführt, die unter anderem im Feuilleton ausgetragen wurde (Stichwort: Frank Schirrmacher, Charles Moore, siehe oben). In Teilen des liberalen US-Bürgertums gab es sogar eine regelrechte Kampagne, Piketty zu diskutieren - angeführt von Paul Krugman, der als Keynesianer wirtschaftstheoretisch alles andere als auf Pikettys Wellenlänge ist. Dass aber eine Diskussion über den richtigen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Kurs innerhalb der Elite geführt wird, teilweise durchaus scharf, verweist auf eine Spaltung zwischen alter »Orthodoxie« und denjenigen, die eine maßvolle Kehrtwende fordern, und bietet für ein Buch wie Das Kapital im 21. Jahrhundert einen völlig anderen Resonanzboden als die Occupy-Bewegung oder der Unmut von Gewerkschaften darüber, dass ihre Verhandlungsmacht gesunken ist. Hätte die gesellschaftliche Elite in ähnlicher Weise über andere Bücher diskutiert, hätten diese sicher auch einen Hype erfahren, den keine soziale Bewegung hätte herstellen können. Dennoch ist auch erklärungsbedürftig, warum es keine Berührungsängste mit Pikettys Buch gibt, was den letzten Punkt aufruft.

Piketty greift die herrschende Wirtschaftsform - den Kapitalismus - zwar an, argumentiert aber nie antikapitalistisch. Erstens gelten seine »Verteilungsgesetze« bei ihm in jeder Wirtschaftsform, nicht nur im Kapitalismus (den er zudem im begrifflich Ungefähren lässt). Die wachsende Ungleichheit ist bei ihm ein Gesetz des Reichtums per se, nicht der spezifisch kapitalistischen Form des Reichtums. Zweitens laufen seine politischen Forderungen nicht auf eine grundlegende Systemtransformation hinaus, sondern bloß auf einige Änderungen im Steuersystem, die den Kapitalismus stabiler machen sollen. Pikettys enorm konstruktive Kapitalismuskritik macht ihn anschlussfähig an den herrschenden Krisendiskurs. (...)

Was hat Piketty geleistet - und was nicht? Wie treffend ist seine Kritik an den Zuständen - und welche gängigen Ideologien transportiert auch »Das Kapital im 21. Jahrhundert«? Piketty stützt seine Erkenntnisse, wie gesehen, auf umfangreiches statistisches Material. Er gibt sich weniger als Theoretiker, sondern als quasi neutraler Statistiker, der die Zahlen für sich sprechen lässt. Unter anderem ist seine eingängige Formel r < g nichts als ein statistischer Indikator. Doch sprechen Zahlen niemals für sich, sie müssen gedeutet werden. Und das passiert auch in Pikettys Buch. Ihm zugrunde liegt eine bestimmte Deutung des gesamten Wirtschaftsgeschehens: die sogenannte Neoklassik, die die Universitäten und Lehrbücher beherrscht, derzufolge die freien Kräfte des Marktes zu einem Gleichgewicht tendieren. Dieses stellt dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream zufolge ein gesellschaftliches Optimum dar, einen Zustand der größtmöglichen Bedürfnisbefriedigung. Dass sein aufbereitetes statistisches Material dem widerspricht, erkennt Piketty durchaus, zieht daraus aber keine theoretischen Konsequenzen. Piketty ist demnach theoretisch nicht nur nicht mit Marx vergleichbar, wie er selbst nicht müde wird zu betonen, sondern nicht einmal mit Keynes, der zumindest einen Bruch mit den theoretischen Grundlagen des neoklassischen Mainstreams vollzog.>/p<>p/p<>p g soll immer gelten, im Feudalismus genauso wie im Kapitalismus. Aber genau diese Borniertheit, Achtlosigkeit gegenüber dem je spezifischen sozialen Charakter des Vermögens führt dazu, dass Piketty zwar die Entwicklung von Ungleichheit historisch nachzeichnen kann, aber immer nur auf bereits vorausgesetzter Ungleichheit, die für ihn »einfach existiert«.

Weil Piketty mit Marx zwar kokettiert, ihn aber nicht ernsthaft zur Kenntnis nimmt, geht ihm einiges verloren - und zwar das Wesentliche dessen, was er eigentlich erklären will. (…) Wie bei Piketty Vermögen einerlei ist, ist es auch die Ungleichheit, und er bewegt sich damit in einem beschränkt aufgeklärten, d.h. bürgerlichen Horizont. Vor dem Kapitalismus, da würde Piketty wohl noch zustimmen, schien Ungleichheit von Gott gegeben, entsprach einer »natürlichen« Gesellschaftsordnung - nicht einmal die Menschen waren gleich. In einer »aufgeklärten« Gesellschaft haben es hingegen derartige Legitimationsmuster schwer. An deren Stelle sind jedoch andere getreten, die unter anderem von den großen Köpfen der bürgerlichen Theorie gepflegt werden - auch von Piketty. So etwa, dass Arbeit Eigentum begründet und damit das Vermögen - das gilt als Norm, als »allgemeines Gesetz« (Marx). Das Theorem findet sich seitdem bis heute nicht nur in der ökonomischen Theorie, sondern ist auch im Alltagsverstand tief verankert - wenn auch nicht widerspruchsfrei.

Einerseits scheint Ungleichheit nur durch unterschiedliche Arbeitsleistung erklärbar und deshalb nur durch Arbeitsleistung legitimierbar; andererseits zeigt die Realität, dass dem nicht so ist. Das ist der Hintergrund, warum sich Piketty im Kreis bewegt. So argumentiert er, dass die Ungleichheit wachse, weil Ungleichheit existiert. Er argumentiert zirkulär, ohne zu erklären, wie eine »ursprüngliche« Ungleichheit überhaupt in die Welt gekommen ist und welche gesellschaftlich spezifische Ungleichheit den Kapitalismus auszeichnet: Die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den objektiven Möglichkeiten der Produktion. Daher hat Piketty über die Art und Weise, wie Ungleichheit im Kapitalismus entsteht und fortbesteht, bemerkenswert wenig zu sagen.