Nie bei Troste

»Woyzeck« am Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Regie kann ein Giftbad sein, und das Denken eine melancholische Viper - die nicht tötet, ohne daran zu denken, wie schön alles sein könnte. Ja, alles könnte so schön sein - am Ende aber bleibt Töten, Vernichten doch das Schönste. Oder wenigstens das einzige. Weil Gewalt immer das einzige ist. Jede Beziehung ist Gewalt, nicht erst der Messerstich. Wir sprechen von gewaltigen Eindrücken, gewaltigen Anstrengungen, gewaltigen Umwälzungen, gewaltigen Leistungen. Von überwältigender Schönheit. Auch Liebe ist überwältigend. Wer liebt, wird von einer Gewalt heimgesucht, die man ganz schnell, nur um sich der Gefährlichkeit des Ganzen nicht allzu schnell bewusst zu werden, himmlisch nennt. Liebe ist höllisch, weil sie alles niederreißt, was bisher in Ordnung war. Alles Leben ist Zusammenprall mit anderem Leben. Geistig, körperlich, gefühlt. Ist Natur. Und Natur wütet noch in ihren prächtigsten Szenerien. Jede Sonne dörrt auch aus, jeder Regen ersäuft auch, jeder Schnee erstickt auch, jedes Tier ist bewaffnet, um angreifen zu können. Dass ein gutes Lebewesen auch sein eigenes böses Gegenteil ist, das versteckt es gern - in der Tierwelt heißt das Tarnung, in der Menschenwelt Kultur. Kultur ist eine Leistung des Bewusstseins - das diese Leistung vollbringt, indem es gleichzeitig und ständig Gedanken entwickelt, dagegen zu verstoßen. Nicht zu tilgen ist der Kitzel, Gesetze zu attackieren, um selber Gesetz zu sein. Nicht zu tilgen die Lust, sich zu rächen und aus angetanem Leid heraus Leid anzutun. Einmal damit angefangen, kann man plötzlich gar nicht genug tun - bis zur Genugtuung. Woyzeck. Das herzpochende Wahrzeichen dafür. Traurigster Mensch eines sozialen Elends, das in gleichem Maße ein Elend des Existenziellen ist und dessen Geschichte über die dramatische Studie eines Ausbeutungsverhältnisses hinausgeht.

Und da sind wir beim Giftbad Regie. Alles morden, was bisher galt. Alles auslöschen, was an traditioneller Erwartung in den Köpfen west. Alles hineintauchen in den Sud, der das Landläufige, Gesicherte wegätzt. Sebastian Hartmann inszenierte - im eigenen Bühnenbild - Georg Büchners »Woyzeck« am Deutschen Theater Berlin, wenige Wochen nach Leander Haußmanns packender Interpretation am Berliner Ensemble. Er reißt dem Drama das Soziale aus, wie man einer Puppe, an deren Lebendigkeit man sowieso nicht glaubt, das Stroh herausreißt. Könnte doch sein, dass just das zerfledderte Material überraschend weidwund wirkt. Könnte sein. Ich habe mich in diesen knapp zwei Stunden sehr gelangweilt, ich fühlte mich brockenbeworfen, wähnte mich einer intellektuellen Arroganz ausgeliefert, die in ihrer expressiven Neu-Gier auch etwas Epigonales, Eitles besaß. Ich ließ mählich ab, fühlen zu wollen (verstehen muss nicht sein). Aber wie das? Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Wahrnehmung, dass sich im gähnbereiten Groll über die Aufführung dennoch eine stichelnde Aufmerksamkeit entstand.

Zunächst das Bild, das heraufdunkelt. Ein Bühnenkasten, mattschwarz glänzend wie regennasser Asphalt oder ein Schacht. Steil ansteigend zu einer hellen Öffnung ganz hinten. Projektionsfläche für blauen Himmel, Schilfgras, Nebel, huschende Schatten. Lichter werden zucken. Woyzeck und Marie. Beide ausgestattet mit dem Text aller Gestalten des Stücks. Ein Spiel, als sei jederzeit jede Szene des Dramas möglich. Alle Gebundenheit an Handlung ist aufgehoben. Ein Wüten aus Worten, Worte treiben das Wüten. Keuchen und Krauchen. Woyzeck ersticht Marie, Marie ersticht Woyzeck. Es geschieht ein fortwährendes, inständiges, rumorheftiges, raufendes, räudiges, rünstiges, rohes Ineinander und Gegeneinander und Zueinander und Beieinander und Weitwegvoneinander.

Sofort also muss man von Katrin Wichmann und Bernhard Lillie sprechen, ein schweißüberströmtes, heißdurchströmtes Musterduo des - siehe oben! - menschlichen Gewaltbetriebs. Ungeheure Vorstöße in Gebiete ohne Trost. »Stirn gegen Stein«, hat Botho Strauß über Büchners Gestalten geschrieben. Die Stirn ist hier Stein, der kocht. Der Stein hat hier Stirn, die blutet. Woyzeck: mitunter wie ein Prinz von Homburg, den es in einen Strindberg verschlug, der auf dem Wege zu Beckett ist. Marie: mitunter wie eine Luise Millerin, die auf Limonadentricks nicht hereinfällt, um nur schmerzhafter zugrunde zu gehen in Seelenfoltern, wie sie Hauptmann oder Horváth bevorzugt für junge Frauen schufen. Wichmann und Lillie jagen, springen, kriechen, krümmen sich über Bewusstseinsklüfte - furchtbare Zerrissenheit und Isolationen.

Das genau ist er, der Grund für die erwähnte stichelnde Aufmerksamkeit. Inmitten einer Regie, die gewissermaßen nicht Ideen hat, sondern zeigt, wie sie ihr kommen. Nacktheit aus Verkopfung heraus. Woyzeck muss, aller Kleider entledigt, auf Befehl des Arztes Harn lassen, daraus wird ein elend langer Beckentanz, der uns einen rythmisch gegen den Körper klatschenden Penis vorführt. Wichmanns bittere Erzählung vom einsamen Kinde, das zu Sonne und Mond zieht, wird von Lillie, einer sich windenden Krümmgestalt am Boden, jäh und grell durchkräht. Die Bühne dreht sich, legt eine verdorrte (Paradies?-)Landschaft mit großem Pusteblumenstrunk frei, eine Leuchtschrift vermeldet »Nebel«, es wird im Wasserbad geplanscht. Und routiniertes Collagieren: Monologische Texte von Heiner Müller (Herakles, Bildbeschreibung) - sie verstärken den Grundwillen der Inszenierung zu Undeutbarkeit, zu Sinnbildern einer verhängnisvollen Verlorenheit, die zwischen bestialischen und heiligen Gefühlen nicht mehr zu unterscheiden weiß.

So vermengt sich’s, aufstörend wie ermüdend und nervend in gutem wie in ödem Sinne. Einerseits Hartmanns radikal entklemmter Geist, aber auch seine verschraubt-ambitionierte Technologie. Vor allem jedoch dies aufreibende Spiel beider Darsteller; darin erfüllt sich das Theater einer stets schreckgeweiteten, dünstenden Körperlichkeit - dem Erschöpfung alles ist, um nur möglichst hoffnungslos zu sein. Das freilich setzt formidabel nach - da man zwischen Verständnis und einiger Verärgerung das Theater verlässt.

Nächste Vorstellung: 16. Oktober

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