Granin, Aitmatow und andere

Leonhard Kossuth, einst Cheflektor für Sowjetliteratur im Verlag Volk & Welt, erinnert sich

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach dem 2002 bei NORA publizierten Buch »Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag« setzt Leonhard Kossuth jetzt mit dem Band »Im Anfang war: Granin auf Reisen - wohin?« die Bilanz seiner verlegerischen und literaturpropagandistischen Tätigkeit fort. Diesmal erinnert er sich an Begegnungen mit der multinationalen Sowjetliteratur - einem Phänomen, das bei der DDR-Slawistik größte Aufmerksamkeit fand, nach dem Zerfall der UdSSR jedoch nur noch als Bestandteil der Wissenschafts- und Kulturgeschichte existiert. Kossuths Postskriptum besteht aus Essays, die aus Vor- und Nachworten hervorgegangen sind, und aus Gesprächen, die er im Rahmen seiner Arbeit als Cheflektor für Sowjetliteratur mit Autoren geführt hat.

Seine Favoriten aus der russischen Literatur - Wladimir Majakowski, Sergej Jessenin, Alexander Grin, Michail Scholochow, Konstantin Simonow, Bulat Okudshawa, Daniil Granin und Andrej Wosnessenski - werden den meisten Lesern noch geläufig sein, von den Nichtrussen sicher auch der weltberühmte Kirgise Tschingis Aitmatow. Wer aber kommt nicht ins Nachdenken, wenn er heute mit Namen wie Icchokas Meras, Mussa Muratalijew, Olshas Sulejmenow oder Ilia Tschawtschawadse konfrontiert wird? Ist es doch schon fast in Vergessenheit geraten, dass eine der größten kulturellen Leistungen des Verlages Volk & Welt darin bestand, die besten Werke aller Literaturen der UdSSR entweder direkt aus der jeweiligen Nationalsprache oder über das Russische übersetzen zu lassen und in sorgfältig kommentierten, ansprechend gestalteten und preiswerten Ausgaben zu veröffentlichen.

Ein Glanzstück von Kossuths verlegerischen Tätigkeit war die von Hugo Huppert nachgedichtete fünfbändige Edition der »Ausgewählten Werke« Majakowskis, die von 1966 bis 1973 erschien. 1976 publizierte er den Majakowski-Band »Hören Sie zu! Auswahl aus dem Gesamtwerk«. Mit dem Nachwort daraus würdigt er in vorliegendem Buch den bewunderten Dichter der Revolution. Jessenin ist der Text »Der die schwarze Kröte mit der weißen Rose vermählen wollte« gewidmet, das Vorwort zu den nur durch den hundertsten Geburtstag des Dichters geretteten »Gesammelten Werken in drei Bänden«, die Volk & Welt noch kurz vor der Abwicklung 1995 unter größten Anstrengungen herausbrachte. In Okudshawas »Romanze vom Arbat« (1985), nachgedichtet von Werner Bernreuther, Kurt Demmler, Christian Rau, Martin Remané und Regina Scheer, fungierte Kossuth als wortgewandter Nacherzähler der Gedichte und, wie man hier nachlesen kann, als kenntnisreicher Interviewer.

Auch zu dem Litauer Justinas Marcinkevicius, dem Tschuktschen Juri Rytchëu, dem Georgier Josseb Grischaschwili und dem Kasachen Abai Kunanbajew entwickelte Kossuth eine enge Beziehung. Den Gedichtband »Auf der Erde geht ein Vogel« von Marcinkevicius mit Nachdichtungen von Franz Fühmann, Heinz Czechowski, Sarah Kirsch und Karl Mickel veröffentlichte er 1969 bei Volk & Welt. Von Rytchëu übersetzte Kossuth gemeinsam mit seiner Frau Charlotte zwischen 1994 und 2000 fünf Romane für den Züricher Unionsverlag. Verse von Grischaschwili über das alte Tbilissi, nachgedichtet von Kossuth und Kristiane Lichtenfeld, publizierte NORA 2007 unter dem Titel »Niemals hat der Dichter eine Schönere erblickt«. Der Band »Zwanzig Gedichte« von Abai, von Kossuth übertragen und mit einem Essay bereichert, kam 2007 in Köln heraus und wurde 2008 in der neuen kasachischen Hauptstadt Astana nachgedruckt.

Mit Interesse liest man sicher auch die Rezensionen über die Inszenierung von Andrej Wosnessenskis Gedichtband »Antiwelten« auf der Bühne des Moskauer Taganka-Theaters und über Daniil Granins heiß umstrittenen Roman »Sie nannten ihn Ur« (1988), dessen Protagonist, der Genetiker Timofejew-Ressowski, von 1925 bis 1945 in Berlin arbeitete. Beeindruckend ist das ausführliche Nachwort zu Mykolas Sluckis’ Roman »Mein Hafen ist unruhig«, das auch Betrachtungen zur litauischen psychologischen Prosa einschließt. - Zu all diesen Autoren enthält der vorliegende Band Informationen, die früheren Publikationen Kossuths entnommen sind und durch Nachbetrachtungen und bio-bibliografische Notizen ergänzt werden. Die Auswahl neuerer literaturkritischer Arbeiten zu einigen Autoren erscheint dagegen ziemlich einseitig. Einige Abschnitte des Buches wiederholen Texte aus dem oben genannten Band über den Verlag Volk & Welt, beispielsweise die Erörterungen über Granins Reisebilder und ihre Wurzeln im Schaffen Heines, die Vignette über Volands Streiche (die auf autobiografische Bezüge zu Kiew und auf Bulgakow-Texte aufmerksam macht) oder die Passagen über Herold Belger und sein Buch »Russlanddeutsche Schriftsteller«. Da wäre Kürze am Platz, wie sie Puschkin für die Prosa forderte, zumal Kossuth noch einen Band »Hundert Rezensionen zu Werken aus fünfzehn Nationalliteraturen« bei NORA ankündigt.

Leonhard Kossuth: Im Anfang war: Granin auf Reisen - Wohin? Essays und Gespräche. NORA Verlag, 380 S., geb., 29,90 €.

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