nd-aktuell.de / 16.10.2014 / Gesund leben / Seite 10

Dr. House rät zum Matratzenwechsel

Im Zentrum für unerkannte Krankheiten in Marburg kommen Mediziner den seltsamsten Symptomen auf die Spur

Angela Stoll
Jürgen Schäfer leitet das »Zentrum für unerkannte Krankheiten« (ZuK) am Uniklinikum Marburg. 2013 wurde es gegründet, weil sich eine wachsende Zahl von Patienten mit rätselhaften Symptomen hilfesuchend an den Marburger Medizin-Professor gewendet hatten. Den Kardiologen und Endokrinologen (Hormonexperte), der sich schon lange mit seltenen Krankheiten beschäftigt, nennt mancher auch den»deutschen Dr. House«. Dazu kam es, weil er die US-amerikanische Fernsehserie mit dem schrulligen Krankenhausarzt für den Unterricht nutzte: Seit 2008 gibt er an der Universität Marburg ein Seminar mit dem Titel »Dr. House revisited oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?«, bei dem Medizinstudenten über Fälle aus der gleichnamigen Fernsehserie diskutieren. Nachdem darüber in den Medien berichtet worden war, schickten viele verzweifelte Patienten ihre Unterlagen bei Schäfer ein. Mit ihm sprach Angela Stoll.

In der US-Fernsehserie »Dr. House« löst der Titelheld in jeder Folge schwierige medizinische Fälle. Nach diesem Beispiel werden Sie gerne der »deutsche Dr. House« genannt. Gefällt Ihnen das?
Das ist zwiespältig. Auf der persönlichen Ebene gefällt es mir nicht allzu sehr. Dr. House ist stellenweise ja ein Misanthrop und kein angenehmer Zeitgenosse. Er ist zynisch und arrogant und wäre im wahren Leben schon in der Probezeit seinen Job losgeworden. Rein fachlich ist er aber brillant und beißt sich wie ein Bullterrier fest, bis er die Fälle gelöst hat. In dieser Hinsicht nehme ich es als Kompliment - auch wenn ich immer wieder sage, dass auch wir in Marburg nur ganz normale Ärzte sind und nicht besser als andere.

Als Patient wünscht man sich eigentlich keinen miesepetrigen »Dr. House«.
Möchte man stattdessen lieber einen Prof. Brinkmann von der Schwarzwaldklinik auf der Bettkante sitzen haben, der einem die Hand hält, während man stirbt? Wenn man die Wahl hätte, würde man sich wohl eher für Dr. House entscheiden. Er ist zwar unfreundlich, bekommt einen aber gesund.

Sind Sie ein Fan der Serie?
Ich habe mir die Sendung gerne mit meiner Frau, die Gastroenterologin ist, angesehen. Die Drehbuchautoren haben verstanden, dass Medizin spannend wie ein Krimi sein kann. Es geht um Leben und Tod und darum, das richtige Indiz für die Lösung zu finden. Ich nutze daher diese Dr.- House-Serien auch für meinen Studentenunterricht.

Stimmt es, dass Ihnen die Sendung in einem Fall geholfen hat, auf die richtige Spur zu kommen?
Ja, das stimmt. Allerdings hätten wir den Fall auch so gelöst, aber vielleicht nicht so schnell. Der Patient war wenige Monate nach einer Hüftkopf-Operation blind und taub geworden, sein Herz arbeitete immer schwächer und man dachte bereits an eine Transplantation. Vor der Hüft-OP, bei der ihm eine Hüftkopfprothese aus Metall eingesetzt worden war, war er ein fitter und recht erfolgreicher Unternehmer. Bei der Visite schilderte seine Frau den zeitlichen Zusammenhang mit der Hüft-OP. Wie der Zufall so will, hatte ich wenige Monate zuvor bei einem Dr. House-Seminar für unsere Studenten genau das Thema Metallvergiftung durch Hüftprothesen besprochen und wusste da recht gut Bescheid. Insofern war es für mich sehr schnell klar, dass es sich hier um eine Kobaltvergiftung aus der defekten Metall-Hüftprothese handeln könnte - was sich dann auch bestätigte.

Auch anderen Patienten mit unklaren Symptomen haben Sie und Ihr Team helfen können. Was machen Sie anders?
Auch wir kochen nur mit Wasser. Ganz wichtig für unsere oftmals recht kniffelige Diagnostik ist aber die Teamarbeit. Einmal in der Woche treffen wir uns hier mit zehn extrem erfahrenen Experten, aber auch jungen, sehr engagierten Kollegen von ganz verschiedenen Fachrichtungen und diskutieren die einzelnen Fälle intensiv. Das ist eine Art Brainstorming. Auf diese Art haben wir schon ganz spannende Lösungen gefunden.

Zum Beispiel?
Manchmal sind es lapidare Sachen, die nicht einmal von unserem Team bearbeitet werden müssen. Ein Patient kam wegen unerklärlicher Rückenschmerzen zu uns. Er war beim Hausarzt, beim Orthopäden, beim Radiologen, beim Neurochirurgen und beim Krankengymnasten gewesen. Wir fragten ihn, wann die Schmerzen auftreten. Weil das nur nachts war, rieten wir ihm, seine durchgelegene Matratze auszutauschen. Damit war das Problem gelöst. Oft haben wir es aber auch mit seltenen Krankheiten zu tun. So hatten wir einen Patienten mit einem extrem hohen Blutdruck, der minderwüchsig ist und zudem sehr kurze Finger hat. Er erzählte, dass auch sein Vater solche kurzen Finger und Probleme mit hohem Blutdruck habe. Wir kamen darauf, dass er an einem Brachydaktylie-Short Stature-Hypertension-Syndrom leidet. Im Nachhinein auch eine einfache Diagnose - wenngleich es eine sehr seltene, genetisch determinierte Erkrankung ist.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie es mit einem neuen Patienten zu tun haben?
Wir versuchen, durch einen ausführlichen Fragebogen möglichst viel von der Vorgeschichte zu erfahren. Dann überlegen wir, welche Anregungen wir den Kollegen vor Ort geben können. Es geht uns um eine heimatnahe Versorgung der Patienten. Nur ein geringer Teil wird einbestellt.

Wie groß ist das Interesse?
Wir werden regelrecht überrannt. Die Masse der Anfragen ist erschreckend. Uns wurden schon Tausende von Unterlagen aus ganz Deutschland unaufgefordert zugesandt. Dahinter stecken viele bewegende Geschichten, viele furchtbare Schicksale. Durch den Vergleich mit Dr. House wenden sich viele Patienten mit der Hoffnung an uns, dass wir die Lösung ihrer Probleme finden. Das gelingt uns manchmal, aber nicht immer. Und selbst wenn es uns gelingt, heißt es noch lange nicht, dass es auch eine Behandlung gibt.

Warum tappen Ärzte denn so oft im Dunkeln?
Das würde ich gar nicht so sagen. Ich bin überzeugt, dass das Gros der Patienten richtig diagnostiziert wird. Aber wenn auch nur ein geringer Promille-Teil mit den üblichen Methoden nicht erkannt wird, dann kommt da schon eine große Zahl zusammen. Der Ansturm, den wir erleben, zeigt, dass viele Patienten mit diffusen Krankheitsbildern keine Anlaufstelle finden.

Wie ließe sich das ändern?
Wir brauchen eine flächendeckende Struktur. Marburg kann nicht ganz Deutschland gesund machen. An vielen Universitätskliniken gibt es bereits hervorragende Zentren für seltene Krankheiten. Das wären eigentlich gute Anlaufstellen. Um flächendeckende Angebote für solche Patienten zu schaffen, müsste aber noch mehr getan werden. Dazu braucht man die Unterstützung der Politik und der Krankenkassen. Letztendlich würde ich mir wünschen, dass solche Zentren wie unseres bei allen Universitätskliniken eingerichtet werden.

Manchmal wird man wegen einer falschen Verdachtsdiagnose an einen Facharzt überwiesen, der dann das eigentliche Problem verkennt. Ist die Spezialisierung ein Problem?
Ja, das mag manchmal so sein. Ein hochspezialisierter Facharzt wird kaum die gesamte Breite der Medizin abdecken. Wir haben heutzutage aber auch ein ganz großes Potenzial durch eine hervorragende Labortechnik, exzellente bildgebende Verfahren und eine vernetzte EDV. Früher habe ich mich in der Bibliothek wochenlang durch dicke Bücher quälen müssen, um einer seltenen Erkrankung auf die Spur zu kommen. Heute kann man die Symptome in eine internetbasierte Datenbank eingeben und bekommt sofort eine Liste mit den infrage kommenden Syndromen. Vor kurzem hatte ich meinen Studenten die Aufgabe gestellt, ein Syndrom zu den Stichworten »fehlendes Fettgewebe« und »Diabetes« zu finden. Sie brauchten knapp 15 Minuten, um auf das Köbberling-Dunnigan-Syndrom zu kommen und erklärten mir freudestrahlend: Sie haben dazu ja auch schon publiziert! Ich hatte damals Wochen gebraucht, um diese Diagnose zu stellen.