Gefährlich: Parlamentarier mit eigenem Kopf

Die erste Entscheidung des Thüringer Landtags lässt ahnen, dass Mehrheiten künftig sehr vage bleiben werden

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Mittwoch trafen sich LINKE, SPD und Grüne zur letzten Sondierungsrunde für eine rot-rot-grüne Koalition in Erfurt. Tags zuvor war der Landtag zur ersten Sitzung zusammengetreten.

Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags am Dienstag gab einen tiefen Einblick in die Zukunft der Arbeit dieses Parlaments. Die etwa zwei Stunden, die die erste Sitzung dauerte, zeigten zum Beispiel anschaulich, dass harte Auseinandersetzungen zwischen Politikern der LINKEN und der AfD drohen. Die neugewählte LINKE-Abgeordnete Kati Grund etwa machte aus ihrer Ablehnung der europakritischen Partei gegenüber keinen Hehl. Sie trug bei ihrem ersten Auftritt im Landtag einen Pullover mit der Aufschrift FCK AFD; was so viel heißt wie »Fuck AfD«. Damit provozierte die 32-Jährige noch vor der Wahl des neuen Landtagspräsidenten den ersten Eklat dieser Legislaturperiode.

Die Wahl des neuen Mannes an der Spitze der ersten Gewalt im Freistaat verlief bei genauerem Hinsehen weniger augenscheinlich. Denn das Ergebnis, mit dem der CDU-Mann Christian Carius am Dienstag in Erfurt zum Landtagspräsidenten gewählt wurde, weist ebenfalls auf eine andere Konstante hin, die die Arbeit des Parlaments in den kommenden Jahren kennzeichnen dürfte: Fraktionen, die heterogener sind als in der zu Ende gegangenen Legislaturperiode und deren Abstimmungsverhalten deshalb schwerer als zuletzt zu steuern sein dürfte - auch wenn in Thüringen aus den Fraktionsspitzen aller Parteien seit Wochen zu hören ist, knappe Mehrheiten seien sehr gut dazu geeignet, Abgeordnete zu disziplinieren. Sowohl ein schwarz-rotes als auch ein rot-rot-grünes Bündnis hätte im Thüringer Landtag nur eine Stimme Mehrheit.

Für Carius stimmten 63 von 91 Abgeordnete, was einer Zustimmung von etwa 70 Prozent entspricht. Insgesamt 28 Parlamentarier versagten Carius damit die Stimme. 14 unmittelbar, weil sie gegen ihn stimmten, 14 mittelbar, weil sie sich enthielten.

Wenngleich es auf den ersten Blick so aussieht, als hätten damit alle 28 Abgeordneten der Linksfraktion direkt oder indirekt gegen Carius gestimmt, ist das doch bei genauerer Betrachtung der parteipolitischen Lage im Freistaat höchst unwahrscheinlich. Genau feststellen lassen wird es sich niemals, weil die Wahl geheim war. Aber eine solch geschlossene Ablehnung durch die LINKE würde bedeuten, dass alle anderen Fraktionen geschlossen für den 38-Jährigen gestimmt hätten.

Und ist das wirklich denkbar? Bei einer CDU, innerhalb derer der Machtkampf um die Nachfolge der amtierenden Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht längst voll ausgebrochen ist? Carius war ihr Wunschkandidat auf dem Sessel des Landtagspräsidenten - weil sie so dem ihr zugeneigten Lager innerhalb der Union den einzigen Posten sichern will, der unabhängig vom Ausgang der laufenden Sondierungsgespräche ist. Ihr Lager braucht einen solchen Posten dringend, weil das Lager ihres Widersachers Mike Mohring auch einen solchen Posten hat. Indem Mohring sich zum Fraktionsvorsitzenden küren ließ, verfügen er und seine Leute bereits über einen Stuhl, der selbst dann nicht wackelt, wenn die CDU in die Opposition müsste. Symptomatisch: Als die von Lieberknecht vor einigen Monaten eiskalt abservierte ehemalige Staatskanzleichefin Marion Walsmann (CDU) zur Wahl schritt, ging ein Raunen durch die Zuschauertribüne des Plenarsaals, weil sich mehrere der Anwesenden fragten: Wo wird sie wohl jetzt ihr Kreuzchen machen?

Nein, es ist kaum vorstellbar, dass Carius aus dem eigenen Lager alle Stimmen bekommen hat. Was im Umkehrschluss heißt, dass ihn längst nicht alle abgelehnt haben können, von denen das qua Parteibuch zu erwarten gewesen wäre. Dann wäre sein Wahlergebnis noch schlechter ausgefallen. Getrost kann man davon ausgehen, dass er Ja- und Nein-Stimmen aus allen Parteien bekommen hat; also auch Ja-Stimmen von einigen LINKEN. Anders als Mohring schlug er gegenüber der Linkspartei nie die ganz schrillen Töne an.

Thüringens Parlamentarier haben damit schon bei der ersten Entscheidung der Legislatur bewiesen, dass sie durchaus einen eigenen Kopf haben. Das Regieren macht das nicht unbedingt einfacher. Erst recht nicht in einem Parlament, in dem mit nur einer Stimme Mehrheit regiert werden soll.

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