Derber, härter, grotesker

Die Maschinerie der Empörung braucht Opfer, um ihre Leere zu kaschieren.

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 6 Min.

Die postmoderne Gesellschaft nährt sich vom Skandal. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Massenmedien und soziale Netzwerke neue Missstände ans Tageslicht bringen. Statt politische Visionen in der Zivilgesellschaft aktiv zu entwickeln, hat sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Ausdifferenzierung der Medienlandschaft ein Klima des permanenten Reagierens von allen Seiten entwickelt. Leser und Nachrichtenzuschauer sind zu passiven Informationskonsumenten geworden, deren Hirn indes auf ständig neue Aufreger gepolt ist. Gleiches gilt für die Produzentenseite, wo der zunehmende Konkurrenzdruck unter den Bewerbern im Fernseh- und Printsegment verzweifelte Suchbewegungen nach immer neuen Skandalen erzwingt. Doch wie erklärt sich dieser stets hemmungsloser werdende Kreislauf?

Dass möglicherweise im Menschen eine gewisse Lust an Erregung und am »Fremdschämen« angelegt ist, mag sein. Doch vor allem die neuen Medien mit ihrer Mixtur aus Bild, Ton und Text bereiten sukzessive einer sensationsgeilen Gesellschaft des Voyeurismus den Weg. Indem der Eklat - ob Steuerhinterziehung, Datenmissbrauch oder Ekel-Dekadenz im Dschungelcamp - zur leicht bekömmlichen Ware wird, scheint zwar zunächst das Bedürfnis nach Brot und Spielen befriedigt zu sein. Doch wer einmal Lunte gerochen hat, will mehr, immer mehr. So gerät die gesättigte Skandalgesellschaft in einen Leerlauf ad infinitum.

Besteht das Ziel von Aufmerksamkeitsgewinnung seit jeher darin, die gesellschaftliche Wertegrundlage stets neu zu verhandeln, versinken die Aufreger heute immer schneller in der Bedeutungslosigkeit. Auf kurze neuralgische Reizungen beim schaulustigen Infotainment-Konsumenten folgen Apathie und Vergessenheit. Um dem entgegenzuwirken, fährt die Adorno’sche Kulturindustrie immer härtere Geschütze auf, verkürzt die Intervalle der Erregungen, intensiviert die Bilder, um Einschaltquoten, Klicks oder Auflage konstant zu halten. Die wirtschaftliche Ressource »Skandal« führt somit zum moralischen Ausverkauf, bis alle Hemmschwellen gefallen sind. Doch was kommt danach?

Dass die sittliche Empörung auf solche gefährlichen Moden des Zeitgeistes kaum ein nachhaltiges Echo in den Weiten unserer multimedialen Kanäle findet, zeigt eindrucksvoll die Krise von Institutionen wie Parteien und Kirchen. Während diese um ihre Legitimität ringen, gewinnt vor allem der personalisierte Skandal immer mehr an Strahlkraft. Dessen Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erheischen, erweckt geradezu den Eindruck, die Echauffierung würde eine mentale und geistige Läuterung hervorrufen. Offenbar scheint dem medial transportierten Skandal eine Ritualität innezuwohnen, die durchaus auf kulturelle und religiöse Opfermythen verweist.

Was passiert eigentlich, wenn eine moralisch erratische Figur wie Alice Schwarzer aufgrund von Steuerhinterziehungen von einem erheblichen Teil der Bevölkerung unter Häme in den Orkus gestürzt wird? Wahrscheinlich ist dabei ein ähnlicher Mechanismus am Werk wie beim Schauen des nachmittäglichen »Unterschichten-TV«. Hier scheint es vielen Zuschauern bewusst oder unbewusst darum zu gehen, sich über schwangere Kinder, missratene Prügelknaben und prollige Arbeitsverweigerer zu erheben. Der Reflex bei der Zurschaustellung von Prominenten ist derselbe. Ob Schwarzer, ob Hoeneß - das Publikum opfert öffentliche Personen, um sich seiner eigenen Integrität gewahr zu werden.

Und dies in zweierlei Hinsicht: zum einen in Gestalt einer heimlichen Identifikation mit dem Skandalopfer. So sollen Steuerbetrüger als geschlachtete Sündenböcke herhalten, indem sie die kollektive Schuld jener auf sich nehmen, die gern dasselbe tun würden, es aber nicht können oder sich nicht trauen. Zum zweiten kann der Zuschauer eine Bestärkung verspüren, weil er sich von Subjekten distanzieren kann, die ganz offensichtlich vom Weg abgekommen sind. Dass etwa die Causa Edathy ein derartiges Aufmerksamkeitsgebaren erfuhr, ist der Tatsache geschuldet, dass sich der Zuschauer durch die Empörung über dessen vermeintliche pädophile Neigungen selbst moralisch aufzuwerten vermag.

Die Skandalmaschinerie der Gegenwart soll uns also von der eigenen Negativität befreien und aus der Hinrichtung von Sündern heraus einen kathartischen Effekt erzielen. Nichtsdestoweniger scheint die Gesellschaft mit dieser Praxis keineswegs reifer oder tugendhafter zu werden. Denn die erhoffte Reinigung gleicht nicht jener, die optimalerweise dem Besucher der griechischen Tragödie zuteil wird. Zwar mag auch diesen Urtypus des Schaulustigen ein Erlaben am Untergang anderer fesseln, der Zweck ist jedoch ein anderer. Indem der Zuschauer das zähe Scheitern des Helden aktiv nachvollzieht, verlässt er das Theater als besserer Mensch. Statt um Abgrenzung wirbt man um das Gegenteil. Man muss sich gerade auf die Verfehlung einlassen, sie seelisch mittragen. Gemäß einem christlichen Verständnis wird Leiden erträglich, wenn es geteilt wird. Feiern Christen die Eucharistie, tun sie nichts anderes, als das Martyrium Jesu in steten Wiederholungen zu kollektivieren, es in ein gemeinschaftliches »Mit-Leiden« zu überführen. Kunst macht uns im Sinne einer Mitleidsethik, wie sie mit Lessing oder Schopenhauer verbunden ist, empfänglich für Not und Schmerz des Anderen.

Doch wo derlei nötige soziale Rituale verloren gehen, sucht die schwache Seele nach Ersatz. Vor allem die Verlockungen der Bilderwelten gaukeln ein breites Sortiment an »Sinnangeboten« vor, worin das Skandalon als die heiße Ware im Sortiment des digitalen Schlaraffenlands schlechthin gehandelt wird. Nacktbilder von Hollywoodstars oder peinliche Affären à la Haderthauer ziehen immer. Was uns fesselt, ist das Skandalon als neue Religion. Statt Messen, Predigten und Beichtstuhl sind Talkshows und Shit-Storm-Chats zu Ablassforen und Bußehallen herangereift.

Schmutzige Themen reiben sich bei Jauch & Co. ab, ohne dabei je Visionäres zu produzieren. Im Zirkus aus Anprangern und Abstrafen gibt es keinen Wert mehr, nur noch die Negativität des Skandals. Dessen Gesellschaft demaskiert sich daher ebenso als eine der Destruktivität. Prägnant mutet beispielsweise die wiederholte Hexenjagd auf fehlerhafte Dissertationen an. Es ist nur allzu offensichtlich, dass es den wütigen Fehlersuchern weniger um Urheberrecht oder den wissenschaftlichen Ethos geht. Stattdessen werden Guttenberg und Schavan den Löwen zum Fraß vorgeworfen - eine Moral der Geschichte gibt es nicht. Jenseits der Überprüfung der Promotionsschriften zog der allgemeine Aufschrei keinerlei produktive Debatte um wissenschaftliche Tugenden nach sich.

Dadurch stellt sich ein umfassender Mangel an Grundsätzlichkeit ein. Da die Frequenz der Eklats ständig zunimmt, um die Öffentlichkeit bei der Stange zu halten, verkürzen sich Diskussionen zum polemischen Schlagabtausch. In flimmernden Talk-Arenen werden sie von verfeindeten Erzkontrahenten ausgetragen, damit es richtig zur Sache geht. Auseinandersetzungen um Einwanderung, Sterbehilfe oder Verschärfung der Prostitutionsgesetze werden von Links und Rechts unversöhnlich flankiert. Um das Publikum nicht zu überfordern, wird auf jegliche Grautöne in sensibelsten Themenfeldern verzichtet. Nur Extremität und Fallhöhe für den zu Stürzenden versprechen Amüsement. Was Ansichtssache ist, genügt nicht zur Erhitzung. Gesucht ist ein klares Opfer auf den Altären der Schlachtung, ein trügerischer Saubermann wie Ex-Präsident Wulf, nur so formt sich die Mehrheit.

Doch wie stabil ist eine Gesellschaft permanenter Aufregung? Was kommt nach dem Tiefpunkt? Geht letztlich alle Vernunft in einem Klima der Enthemmung und der Denunziation unter, so bleibt nur noch der Nihilismus.

Von der großen Öffentlichkeit die Anstrengung zu einer neuen Ethik zu erhoffen, dürfte an Naivität grenzen. Zumindest bedarf es aber eines Aufstands der intellektuellen Elite. Die Heilspredigten von einem »Mehr an Bildung« können nur erfolgreich sein, wenn sich auch die meinungsmachenden Medienführer ihrer Verantwortung für den sozialen Fortschritt jenseits der Quoten und Auflagenzahlen bewusst werden.

Eine politische Debatte um eine neue Mediencharta zur Wahrung der Menschenwürde in Bild, Ton, Text und Internet ist längst überfällig. Nur allseitige Maßhaltung schraubt die Skandalgeilheit zurück und lässt uns vielleicht bald wieder eine Sensibilität für wahre Missstände entwickeln. Aber Vorsicht: Wer darin schon einen Eingriff in die Pressefreiheit wittert, geht bereits dem nächsten, überflüssigen Skandalon in die Falle.

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