Mitspielen

Beim SV Pfefferwerk darf das jeder.

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 7 Min.

Du darfst nicht mitspielen!« Ein gewalttätiger Satz. Luca* bekommt ihn auf dem Schulhof zu hören, wenn die anderen zusammen kicken. Seine Wangen brennen dann, als ob man ihn geohrfeigt hätte. Denn der Satz meint ja auch: »Wir wollen dich nicht, du bist anders als wir, du gehörst nicht zu uns.« Abgesehen davon würde Luca wirklich sehr gern Fußball spielen, wie alle Jungs. Aber allein?

»Ich will nicht mehr mitspielen.« Ein müder, ein erschöpfter Satz. Er stammt von Ben. Obwohl Ben beim Mannschaftstraining oft Torschützenkönig war, hat ihn sein Trainer bei Ligaspielen meist nur eingewechselt und lieber den eigenen Sohn aufgestellt. Auch nachdem sich Ben einen anderen Sportverein gesucht hatte, kam die alte Lust am Fußball nicht zurück, denn auch dort gab der Trainer den Feldherren: Kommandoton, Beleidigungen.

Seit einigen Monaten spielen Luca und Ben gemeinsam Fußball, in einer Inklusionsmannschaft des Berliner Sportvereins Pfefferwerk. Laut Berliner Fußball-Verband (BFV) soll es in der Hauptstadt noch zwei weitere solcher Mannschaften geben, doch Fabian Rohde ist anderer Meinung. »Nach meinen Kriterien sind wir die einzige.« Fabian Rohde trainiert beim SV Pfefferwerk die Fußball-Inklusionsgruppe. »Inklusion meint doch, dass Menschen mit und ohne Handicap zusammen eine Gemeinschaft bilden. In den beiden Mannschaften, auf die sich der Berliner Fußball-Verband beruft und gegen die wir in einem von ihm organisierten Turnier angetreten sind, spielen aber nur Schüler aus Förderschulen mit Handicaps. Das ist bei uns anders.«

Luca hat das Asperger-Syndrom, Ben ist »normal«. Immer dienstagnachmittags treffen sie sich auf dem Gelände des SportJugendClubs Prenzlauer Berg in der Kollwitzstraße. Der SportJugendClub hat die Inklusionsfußballer vom SV Pfefferwerk als Gäste aufgenommen - mehr als eine noble Geste. Schon seit Jahren mangelt es in Berlin an Sportstätten. Viele Gruppen müssen deshalb auf engstem Raum gedrängt Sport treiben, und für inklusive und Behindertensportangebote ist die Situation noch prekärer: Die Bezirke vergeben Hallen und Sportplätze vorrangig an Sportgruppen im Liga-Betrieb oder im Leistungssport. Dass der SportJugendClub seine Räumlichkeiten der Inklusionsgruppe vom Pfefferwerk solidarisch zur Verfügung stellt, ist also auch so etwas wie Inklusion: Die Benachteiligten werden nicht ausgeschlossen.

In diesen Wochen wird der Bolzplatz in der Kollwitzstraße allerdings erneuert. Große Baumaschinen besetzen ihn, Luca, Ben und die anderen müssen vorläufig in der Halle trainieren. Die anderen, das sind die in ihrer geistigen Entwicklung verzögerten Leon und Deniz sowie der gehbehinderte Karl. Mehr Jungen sind heute nicht gekommen. Anders als im Liga-Betrieb ist die Teilnahme am Training keine Pflicht, wer wegbleibt, muss sich nicht entschuldigen. »Wir sehen das locker«, sagt Fabian Rohde, »mancher fühlt sich an manchem Tag vielleicht nicht so wohl. Natürlich geht es auch bei uns darum, fußballerische Fertigkeiten zu vermitteln. Doch der Spaß steht im Mittelpunkt.«

Rohde, 30, hat selbst von Kind an Fußball gespielt, im Liga-Betrieb beim SC Heiligensee. Mit 18 hat er beim Berliner Fußball-Verband eine Ausbildung zum Trainer absolviert und dann ehrenamtlich bei verschiedenen Vereinen als Trainer in der höchsten Spielklasse, der Verbandsliga, gearbeitet. Da er gleichzeitig auf Erzieher und Sozialarbeiter studierte, ist ihm der leistungsorientierte Sport irgendwann einfach zu viel geworden: dreimal wöchentlich trainieren, der permanente Wettkampfdruck. Da hat er sich zurückgenommen, nur noch die ganz Kleinen gecoacht, die gerade ihre Freude am Fußball entdeckten. Sein Praktikumssemester hat Rohde beim SV Pfefferwerk gemacht, »dort hatte ich die Möglichkeit, Sport und Sozialarbeit zu verbinden«. Die Bachelorarbeit hat er über Inklusion geschrieben, heute ist er beim SV Pfefferwerk fest als Trainer angestellt. Rohde weiß, dass er einer von denen ist, die das große Los gezogen haben. »Wer bekommt schon die Chance«, fragt er, »mit seiner Liebe zum Sport auch noch Geld zu verdienen?«

Der SV Pfefferwerk ist der größte Kinder- und Jugendsportverein Pankows. In 200 Gruppen treiben etwa 4000 Menschen Sport. Schon seit den 90er Jahren engagiert sich die »Pfeffersport-Familie«, wie sie sich nennt, im Integrationssport. Seit 2009 ist der Verein dabei, sich zu einem Sportverein für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zu entwickeln. »Ein Sportverein für alle« will er langfristig werden, so schreibt er auf seiner Homepage. Weiter steht dort: »Inklusion heißt hier, dass ein gemeinsames Sporttreiben selbstverständlich wird. Denn wo niemand ausgegrenzt ist, muss auch niemand integriert werden.«

Luca, Ben, Leon, Deniz und Karl haben sich umgezogen und dribbeln ein bisschen in der Halle. Rohde begrüßt seine Spieler mit Handschlag. Anderthalb Stunden werden sie nun trainieren. Nicht, um an Wettkämpfen teilzunehmen, sie gehören nicht zum Liga-Spielbetrieb. Weshalb sie auch nicht den Altersrichtlinien der Verbände unterliegen. Dort umfasst eine Altersklasse jeweils zwei Jahrgänge, hier nicht. »Manche der Jungen sind schon deutlich älter als die, mit denen sie hier zusammen spielen, aber entwicklungsmäßig passt es«, erklärt Rohde. Wie spielt man ohne Leistungsdruck? »Natürlich will ich auch«, sagt Rohde, »dass die Jungs den Ball wegschießen. Aber wenn das einer nicht mit der Fußinnenseite macht, kann ich damit wunderbar leben.« Kann ein Zusammenspiel funktionieren, wenn einer eingeschränkt ist und der andere nicht? Rohde darf niemanden über- oder unterfordern, weshalb er je nach Bedarf komplexe Übungen mit weniger komplexen kombiniert: »Sonst ist der Spaß weg.« Aber gute Fußballer seien sie alle, versichert er. Der eine habe viele Ballkontakte, der andere einen harten Schuss, wieder ein anderer zeige starken Einsatz, der nächste könne gut Tore schießen, noch ein anderer habe den Fußballblick. »Der Ball muss rollen, darum geht es.«

Der Ball rollt. Luca ist mit vollem Einsatz dabei, er darf mitspielen. Als der Trainer ihn auf etwas hinweist, fühlt er sich ungerecht behandelt. Wenn Luca sich ungerecht behandelt fühlt, und das kommt oft vor, wird er sauer und ist beleidigt. Oft ist es Ben, der ihn dann beruhigt. Heute schafft Ben das nicht. »Wenn Luca nicht einsieht, dass ich gerecht zu ihm war, dann ist das eben so«, sagt Rohde. Der Mann mit dem langen dunklen Bart, den Neuankömmlinge schon mal mit Bushido verwechseln, reagiert auf Zwischenfälle gelassen, womit auch schnell wieder Ruhe einkehrt. Still, freundlich und besonnen bleibt er. Er beschäftige sich auch nicht zu sehr mit den Handicaps seiner Spieler. Für seinen Job brauche er Offenheit, Empathie, Fingerspitzengefühl und den Mut, »mal was auszuprobieren«.

Manche der Spieler mit Handicap haben außer beim Training in Rohdes Fußballmannschaft kaum Kontakt zu Menschen ohne körperliche, geistige oder soziale Einschränkung. Für sie ist es einfach angenehm, sich zu bewegen und Teil einer Mannschaft zu sein. Haben sie hier Erfolg, erleben sie: Die anderen sind nichts Besseres. Die »anderen« erleben: Handicaps sind »normal«, es ist falsch, ihre Mitspieler darauf zu reduzieren. Lernen beide Seiten fürs Leben? Erwiesen und belegt ist noch nichts, aber Rohde hofft es. »Irgendwann wird es so sein, dass man ganz entspannt miteinander umgeht.«

Da Inklusionsangebote im Fußball noch äußerst rar sind, war der Ansturm auf Pfeffersport groß. Die Spieler kommen aus Friedrichshain, Schöneberg, Wedding und Karlshorst und nehmen weite Wege auf sich. Derart groß war die Nachfrage, dass Pfeffersport sich unlängst entschloss, die Inklusionsmannschaft zu teilen. In eine, die montags trainiert, und in die von Rohde betreute, die sich immer dienstags trifft. Eine glückliche Entscheidung?

Neben Ben spielen im Augenblick bei Rohde nur noch zwei weitere Jungen ohne Handicap, und das gefällt dem 13-jährigen Gymnasiasten nicht. Er war gern mit den Jungs aus dem Wedding zusammen, die nun in der Montagsgruppe sind. Deshalb überlegt Ben jetzt, ob seine Zeit es ihm erlaubt, wieder in einen Sportverein im Liga-Spielbetrieb zu wechseln. Die Lust ist zurück.

Dann freilich wäre die »Mischung« in Rohdes Inklusionsmannschaft nach dessen eigenem Verständnis nicht mehr optimal. Na und? Neue Spieler werden kommen, und man wird neu denken müssen. Das dürfte kein Hindernis sein.

*Namen der Jungs geändert

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