nd-aktuell.de / 19.10.2014 / Die Tatort Kolumne / Seite 4

Vergiss nicht, wer du bist

Matthias Dell über den Münchner »Polizeiruf«

Matthias Dell

Eigentlich ist der »Polizeiruf 110: Smoke on the Water« (BR-Redaktion: Cornelia Ackers) nach siebeneinhalb Minuten schon zu Ende. Der Kommissar fährt den Rechner runter, knipst das Licht aus und sagt: Die Ermittlungen im Fall Anne ten Hoff sind abgeschlossen, als er den Kollegen auf dem unwirklichen steinernem Treppenbuckel im Flur des Kommissariats trifft.

Ab da Musik, ein leicht forderndes, sich vorsichtig steigerndes Saitenzupfen, das bald von desillusioniertem Blechblasen beschwichtigt wird. Der Kommissar tritt aus dem unwirklich steinernem Jugendstilornamenthalbrund der Polizeirevierfassade, Feierabend, Herbstdunkel, eine Tram quert die Straße, die Lichter sind unscharf. In den Gang über eine Brücke mischen sich die Flashbacks auf das, was noch kommen wird, Aggregatzustände der Geschichte, Schreie, Schüsse, Hecheln. Am Ende wieder der Kommissar, frontal auf die Kamera zu.

Wenn man die schönste Sequenz der Saison wählen sollte aus einem ARD-Sonntagabendkrimi, das wäre sie (Regie: Dominik Graf, Kamera: Hendrik A. Kley). Auch weil alles drin steckt, Ende und Anfang; zum Gang des Kommissars leuchten die Credits über das Bild, die Aufbruchsstimmung verbreiten, wo die Arbeit doch getan ist.

Und die Lichter sind unscharf: »Smoke on the Water« ist auf 16-mm-Film gedreht, was Poren sichtbar macht, die es in der digitalen Hochauflösung nicht mehr gibt. Wenn man es entwicklungsphysiologisch sagen will: »Smoke on the Water« steckt bildgeschichtlich mit voller Absicht in der Pubertät.

So träumt der Film seine eigene Erinnerung. Der merveillöse Meuffels (Matthias Brandt), wie er da im Trenchcoat mit hochstehendem Kragen in seinem verstellten Gang auf die Kamera zukommt, sieht aus wie eine moderne Version von Tapperts »Derrick«. Und Judith Bohles Corry Hüsken (Buch: Günter Schütter), die Freundin der Toten, die neben Meuffels her ermittelt, verlängert eine Nouvelle-Vague-Schönheit in die frühen achtziger Jahre. In die Zeit, für die Bohle in »Es werde Stadt«[1], Dominik Grafs Fernsehessay zu 50 Jahren Grimme-Preis aus dem Frühjahr, lauter Fernsehansagerinnen gemimt hat.

Das alles sind Äußerlichkeiten, aber sie erzählen viel von dem Reiz des Münchner »Polizeiruf«, den eben die Brauntöne, die Körnigkeit, die Posen ausmachen. Zum Reiz gehören auch: die Details, Überschüsse der Erzähllust von Graf und Schütter, Reste des narrativen Reichtums. Zum Beispiel: Der Strip-Poker mit den Narben, die sich Meuffels und Corry in einem Landgasthof zeigen.

Oder: Die Autofahrt der Guttenberg-Nachempfindung Cadenbach (Ken Duken), wenn der Politiker in ein paar Schnitten in seinem Van zum eigenen Schloss beschleunigt wird (Schnitt: Susanne Hartmann) und da dann, das ist hübscher Humor, nach »Schatz« ruft. In einem Schloss.

Auch hübsch humorvoll: der »Holzi«, Holger Zacharias, das Kind vom Cadenbach, das sich schon auf die elitäre Abgeschiedenheit im Internat freut. »Gesellschaftlicher Schliff und Eigenständigkeit werden da besonders entwickelt«, sagt der Bub wie ein Roboter.

Leider hängt dann nur die Geschichte von »Smoke on the Water«. Es wird nicht recht klar, welchen Effekt es machen soll, dass alles bald klar ist: dass der Musiker Mischa (schön nervös: Marek Harloff) sein Geständnis abgibt für Cadenbach. Die Inszenierung zielt nicht auf die Aha-Momente, in denen das, was vorher zu sehen war, durch ein neues Wissen, noch einmal ganz anders aussieht. Und die Geschichte macht, was groß sein soll (Korruption, Politik, Auftragskiller) klein gerade dadurch, dass sich das abspielt in der Runde von vier einstigen Zöglingen des Internats (Cadenbach, Mischa und zwei weitere), das auch Meuffels besucht hat.

Der »Polizeiruf« ist ein Film, der drei hätte sein können, sich aber für keinen richtig entschieden hat. Auch wenn es, gerade nach den Tukur-Toten letzte Woche[2], Leute geben wird, die angesichts von »Smoke on the Water« auf den Klara-Blum-Standard[3] pochen werden: So müssen Filme scheitern können.

Eine Eröffnung, mit der man auf Stehpartys reüssieren kann:
»Reichtum hat doch nur einen Sinn, wenn es ein Publikum gibt, dem man was vormachen kann«

Eine Erkenntnis, die nie zu spät kommt:
»Meine Familie hat über Hunderte von Jahren eine Rolle gespielt«

Links:

  1. http://www.youtube.com/watch?v=0SwRn2CBbu4
  2. http://www.nd-aktuell.de/artikel/948979.du-hast-ja-tolle-schuhe.html
  3. http://www.nd-aktuell.de/artikel/948164.mit-routine-gefuellt.html