Drei Jahre NSU-Aufklärung - und so viele offene Fragen

Öffentliches Fachgespräch der Linksfraktion im Bundestag

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Linksfraktion im Bundestag hatte am Montag zu einem öffentlichen Fachgespräch über den NSU-Komplex eingeladen. Man wollte die bisherige parlamentarische und juristische Aufklärung bilanzieren.

Vor fast drei Jahren flog ein Neonazi-Terrornetzwerk auf. Zehn Morde, mehrere Bombenanschläge und Banküberfälle werden dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zur Last gelegt. Vier parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben sich bislang mit den Ursachen des NSU sowie dem sogenannten Versagen des Staates bei der Verhinderung und Aufklärung der rassistischen Morde, Anschläge und Überfälle befasst. In Nordrhein-Westfalen und Hessen laufen entsprechende Recherchen, in Baden-Württemberg soll es wohl demnächst gegen den Widerstand der Landesregierung einen solchen Ausschuss geben.

Vor dem Oberlandesgericht in München wird gegen die mutmaßlich Angehörige der NSU-Kernzelle, Beate Zschäpe, sowie vier Helfer verhandelt. Die Bundesanwaltschaft betreibt neun Ermittlungsverfahren wegen der Unterstützung der terroristischen Vereinigung sowie ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren gegen »unbekannt«. Hat all das die Neonazi-Strukturen geschwächt? Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pressearchiv sagt nein. Das alles habe »keine abschreckende Wirkung« auf rechtsextreme Täter und Strukturen gehabt. Die Neonazis seien weiter »sehr agil, flexibel und zum Teil sehr erfahren«. Der Rechtsextremismus-Experte verwies während der von der Linksfraktion im Reichstagsgebäude veranstalteten Beratung auf über 220 offiziell registrierte Straftaten mit einem Bezug zum NSU. Jederzeit könnten sich neue Terrorzellen bilden, warnte Jentsch.

Dass es genügend Nährboden für rassistische Einstellungen gibt, hatte zuvor der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Safter Cinar, bestätigt. Zu oft und zu schnell würden deutliche Signale wie Brandanschläge auf Moscheen offiziell als unpolitisch bewertet. Noch immer hätten Sicherheitsbehörden nicht gelernt, Dinge aus der Opferperspektive zu betrachten. Auch Kanzlerin Merkel sei nach ihrer Zusage, dass die Verbrechen des NSU vollständig aufgeklärt würden, allzu schnell »abgetaucht«. Es gebe auch nur wenige Anzeichen dafür, dass sich in den Verfassungsschutzbehörden eine echte Reform vollzogen habe.

Die Explosion der Neonazi-Bombe 2004 in der Kölner Keupstraße, bei der 22 Menschen zum Teil schwer verletzt worden sind, sei ein erster Schock für die vorwiegend türkischen Bewohner und die Handeltreibenden gewesen, erinnerte sich Mitat Özdemir, der für seine Nachbarn sprach. Einen zweiten Schock habe man durch die Art und Weise erlitten, wie deutsche Behörden Opfer als Täter verdächtigten. Die Menschen hatten Angst. Angst vor der Polizei, Angst vor dem Finanzamt, Angst vor dem Entzug der Aufenthaltserlaubnis, Angst vor einstigen Freunden und Nachbarn. Viel Vertrauen sei zerstört. Es wieder aufzubauen, wünsche man sich in der Keupstraße. Doch dazu bedürfe es großer Anstrengungen aufseiten der Bewohner wie der Behörden.

Vertrauen, so wurde im Verlaufe der Debatte deutlich, schwindet auch, wenn falsche oder einseitige Schlussfolgerungen aus dem Versagen der staatlichen Ermittlungsbehörden gezogen werden. Die habe man kräftig mit zusätzlichen finanziellen Ressourcen ausgestattet, während Opferberatungen und andere antifaschistische Gruppen ums Überleben kämpfen müssen.

Für einen langen Atem bei der Aufklärung warb Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. Er vertritt beim Münchner NSU-Prozess Gamze Kubasik. Auch deren Mann war den NSU-Rassisten zum Opfer gefallen, obwohl der Verfassungsschutz über 40 V-Leute im Umfeld der Neonazi-Täter installiert hatte. In eineinhalb Jahren sind in München gut 300 Zeugen gehört worden. 600 seien benannt. Aus Scharmers Sicht ist man weit davon entfernt, das Aufklärungsversprechen als eingelöst zu betrachten. Ob so vieler offener Fragen warb der Nebenklagevertreter für einen weiteren Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Spätestens im März oder April, wenn der gerade im Fall des toten V-Mannes »Corelli« eingesetzte Sonderermittler seine Erkenntnisse vorgelegt haben wird, müsse man dazu Stellung beziehen, meinte Petra Pau. Die Bundestagsvizepräsidentin war im ersten derartigen Gremium Obfrau der LINKEN und erinnerte daran, dass der Bundestag am 3. September 2013 den Abschlussbericht des Ausschusses bestätigt hat. Und damit 50 Schlussfolgerungen. »Umgesetzt wurde bislang fast nichts, nicht durch die Bundesregierung, nicht durch Landesregierungen, nicht durch Behörden im Bund und in Ländern.«

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