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Mutters Sohn, er kann nicht fliehen

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung ist das literarisch ausgefeilte Porträt eines Berliner Stadtneurotikers

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen«, sagt Franz, der Erzähler aus Hans-Ulrich Treichels neuem Roman »Frühe Störung«. »Man kommt als Diener und geht als Herr. Als Herr seiner selbst.« Doch der Journalist und Autor von Reiseführern betritt die großbürgerliche Berliner Wohnung seines Therapeuten immer durch den Haupteingang und er verlässt sie wieder durch den Dienstbotenaufgang. Wäre es anders gewesen, »hätte ich durch den Vorraum gehen und dem Patienten begegnen müssen, der nach mir dran war, so dass mir der Abgang über den Dienstbotenaufgang durchaus lieb war«.

Womit der Grundriss der Charlottenburger Wohnung ganz gut den mentalen Zustand des Patienten respektive Erzählers wiedergibt: Nur nicht dem eigenen Elend in Form eines anderen Patienten begegnen. Oder der eigenen Lächerlichkeit, der hoffnungslosen Selbstbezüglichkeit der »frühen Störung«.

Eine Störung, die darin besteht, dass Franz ein Wort nicht aus dem Kopf geht: Mutter. Ständig muss er an sie denken, auch als sie bereits tot ist. »Fehlte nur noch, dass meine Mutter über den Dächern aufgetaucht wäre wie die Mutter von Woody Allen. Das hatte ich im Kino gesehen ... Aber so war es hier nicht. Das wäre dann ja sozusagen filmreif gewesen. Und vielleicht sogar lustig. ›Immer diese Mütter‹, hätte ich mir dann sagen können.«

Da es aber nicht so ist, geht er auch weiterhin als leidender Diener seiner Mutter durch den Dienstbotenaufgang hinaus.

Erzählerisch hat Hans-Ulrich Treichel seinen Roman wie eine Psychoanalyse aufgebaut. Dass, was sein Berliner Stadtneurotiker dem Leser erzählt, ist wahrscheinlich kaum anders als das, was sein Therapeut zu hören bekam. Nur vielleicht nicht so leichtfüßig formuliert, so literarisch ausgefeilt und hintergründig, mit leichter Ironie versehen, wechselnd zwischen Komik und Tragik.

Ein Buch, das vieles enthält, was jeder Sohn kennt (die Töchter haben es in dieser Hinsicht eher mit den Vätern zu tun). Wie Woody Allens Helden steht der Erzähler hier unter keinem existenziellen Druck, weil seine Mutter ihm eine große Wohnung in bester Lage hinterlassen hat. So kann sich sein Ehrgeiz auf eher schlecht bezahlte immaterielle Dinge, auf Ruhm und Ehre als Reisebuchautor richten. Aber selbst da rauscht ihm die Mutter immer wieder dazwischen. So steht auch die Reise nach Indien, worüber Treichels Antiheld einen Reiseführer schreiben will, unter diesem unguten Stern. »Die Ferne, nach der ich mich sehnte, war vor allem die Mutterferne.« Aber diese Ferne bringt ihm keine Erleichterung, denn »die Ferne, vor der ich mich fürchtete, war dieselbe Mutterferne«.

Ein Widerspruch, so lächerlich wie abgründig unauflösbar. Ambivalente Gefühle, die vielleicht das Missverständnis von der guten Mutter und dem bösen Sohn erklären. Denn Franz lässt seine Mutter, die ihn ja liebt, immer wieder allein, auch dann noch, als sie an Krebs erkrankt. Stattdessen fährt er nach Rom - gerade nach Rom, zu »Mama Roma«, der Mutter aller Städte, der Stadt mit den meisten Madonnenbildern und -statuen.

Vor der berühmtesten aller Madonnenstatuen, Michelangelos Pietà im Petersdom, bleibt er dann nachdenklich stehen. Seit ein verrückter Ungar namens Laszlo Toth mit einem Hammer auf die steinerne Skulptur eingeschlagen hatte, steht sie in einer Panzerglasvitrine. »Vielleicht aber war Toth gar nicht verrückt gewesen, vielleicht hatte auch er eine Stimme gehört, vielleicht hatte auch er der Mutter den Mund verschließen wollen, weil sie ihm tagaus, tagein ein süßes, sanftes Trostlied sang. Ein Trostlied für ihren kalten, kranken Sohn.«

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag. 189 S., geb., 18,95 €.

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