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Anpassung und Widerstand

  • Heinrich Fink
  • Lesedauer: 2 Min.

Gut lesbare Sachbücher über den Faschismus werden gerade heute dringend gebraucht. Hans Rainer Sandvoß hat seinem 2007 erschienenen Berlin-Buch »Die andere Reichshauptstadt - Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin 1933-1945« nun erfreulicherweise eine akribische Untersuchung über Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand folgen lassen. Neben der Würdigung weithin bekannter Namen aus dem kirchlichen Widerstand gegen Hitler wie Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller widmet er besondere Aufmerksamkeit den unbeirrt den Kriegsdienst verweigernden Zeugen Jehovas sowie den von Anfang an Juden helfende Quäkern. Wer weiß schon, dass die kleinen Gruppen der Quäker durch ihre Kontakte im Ausland über 10 000 jüdische Kinder die rettende Flucht nach England ermöglichten? Die Quäker lehnten konsequent Ideologie und Praxis des Naziregimes ab. Die Zeugen Jehovas wollten sich nicht »politisch« einmischen, wiesen aber durch ihre strikte Kriegsdienstverweigerung im Vergleich mit den Kirchen die höchste Zahl an Märtyrern auf.

Sandvoß will Protest, Engagement und Widerstand von Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehova und Quäkern nicht vergleichend abwägen und gegeneinander aufrechnen. Er fragt aber, inwiefern in den beiden Großkirchen konfessionelle Bindungen und theologische Traditionen Entscheidungen blockierten und inwieweit christlich-bürgerliche Lebensweise und das kritische Verhalten zur Weimarer Republik solidarische Verbindungen zum Arbeiterwiderstand nahezu ausschlossen. Theologische Kontroversen raubten Kraft und Zeit. Auch aus diesem Grunde wohl wurden nach 1945 im sogenannten Stuttgarter Schuldbekenntnis Stichworte wie Vernichtungskrieg und Antisemitismus ausgespart.

Hans Rainer Sandvoß hat ein beeindruckendes Lernbuch zum Umgang mit Geschichte verfasst, gestützt auf reiches Faktenmaterial und einer Fülle von Dokumenten und Zeugnissen Betroffener. Die ambivalente Situation in der evangelischen Kirche wird nicht angeprangert, aber als nachdenkenswertes Paradigma dargestellt. Die Diskussion um das Verhältnis zu den braunen Machthabern und den gleichgeschalteten Deutschen Christen, die den Arierparagrafen auch in der Kirche umsetzen wollten, fand in den Gemeinden und Gruppen der Bekennenden Kirche statt. In den gemeinden sollten auch heutige neofaschistische Gefahren diskutiert werden. Dabei kann dieses Buch helfen. Gerade in kirchlichen Institutionen, die sich lange einer schonungslosen Aufarbeitung ihres Verhaltens in der NS-Zeit verweigerten, sollte es gründlich studiert werden.

Hans Rainer Sandvoß; »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen ...« Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945. Lukas Verlag. 564 S., geb., 29,80 €. Der Autor stellt sein Buch heute, 23.10., 19 Uhr, in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand vor.

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