Herrschaftsfreies Niemandsland

Jochen Schimmang lobt das Randständige, Außenseiterische

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein fantastisches Licht in das die Wirklichkeit von Jochen Schimmang getaucht wird. Magisch und erhellend zugleich kann der schmale und doch reiche Band auf Leser wirken. Kein Wunder, hat doch der Autor von »Grenzen, Ränder, Niemandsländer« als Junge zeitweilig in einem Bungalow gelebt. Und Bungalow, so steht es in der Wissensmaschine Internet geschrieben, ist nur das von Engländern verballhornte Wort für »Bengalisches«. Bengalische Hütten wollten die Kolonienbesitzer mit ihren Flachdachbauten nachahmen. Dass ausgerechnet dem Bungalow der Schimmangs ein Dachboden zu eigen war, muss dem Magischen zugerechnet werden. Auf dem Dachboden lag einer der Fluchtorte des kleinen Jochen. Hier hatte er sein temporäres, herrschaftsfreies Niemandsland, hier schrieb er sich aus der Welt, um sie vom Rand aus besser beobachten zu können.

Alle, fast alle drängeln in die Mitte: Die Parteien, Wohnungsinhaber, wer will denn schon am Rand wohnen, auch die mit dem herrschenden Geschmack, leben so medioker wie möglich. Und wer nach Berlin zieht, der vermeintlichen Mitte des Landes, stellt der Autor fest, der will unbedingt in den Bezirk »Mitte«. Schimmang zieht das Randständige, das Außenseiterische vor und wurde so selbstverständlich zum Linken.

Sein radikales Lesebuch ist üppig mit Zitaten und literarischen Hinweisen versehen. Immer um einen Gedanken zu vertiefen. So, wenn er Oscar Wilde zu den Armen zitiert, denen »jede Grazie fehlt, jede Anmut der Rede, jede Zivilisation oder Kultur«. Aber, schreibt Schimmang mit etwa drei Ausrufezeichen, aber der englischen Arbeiterklasse, den Armen im Kampf gegen Margaret Thatcher, fehlte es nicht am Begreifen des Antagonismus. Dem Wissen davon, dass zwei Klassen sich unversöhnlich gegenüberstehen. Und so erkennt er dann vom Rand her, dass die einst selbstbewusste Klasse sich im Zuge der De-Industrialisierung als Personal in Call- und Shopping-Zentren aufgelöst hat. So ruft er denn der neuen Mitte, den Smarties in den Londoner Finanzzentren zu, dass die Thatcher leider dreißig Jahre zu spät gestorben ist.

Mitten in der Verteidigung des Randes als Standort, spricht Schimmang den Leser, den »lieben Leser«, ganz direkt an. Was ein wenig altertümlich wirkt, das warnt hochmodern vor der Heimattümelei: »Der Schritt vom regionalen Widerstand zum Heimatverein ist leider nicht besonders groß«. Ist zu lesen und das Bild der vielen regionalen Kämpfe, in denen die jeweilige Landschaft verteidigt wurde, erinnert an die dort entstandenen Grünen, die heute für die ganze, große Heimat Verantwortung übernehmen wollen: In Afghanistan schon lange, vielleicht demnächst auch in der Ukraine. Dass andere Leute auch eine Heimat haben und dass die nicht immer so idyllisch aussieht wie die deutschen Ländle und doch von denen selbst gegärtnert werden muss, macht der Autor mit einem einzigen wunderbaren Satz klar. Über das vereinte Deutschland und seine Nachbarstaaten schreibt er, es sei »mitten unter ihnen, wohl genährt ... und immer voller echter Sorge um Europa, das nur gedeihen kann, wenn es auf den dicken Mann in seiner Mitte hört.«

Voller Aktualität, wenn auch in zeitlose Sprache gekleidet und in der Retrospektive, erzählt der Autor über das Nachkriegs-Westdeutschland, in das sein Vater mit nur einem Arm zurückkehrte. Über das Wort »Zusammenbruch« statt »Befreiung« wird berichtet, über die neuen Funktionäre der Macht, die doch häufig die alten waren und wieder der Verweis auf ein anderes Buch: »Das haben wir nicht gewollt« von William Sheridan Allen, in dessen »German Town« Schimmang seine Heimatstadt wiedererkennt.

Und so erfahren wir, selten genug in der ernsten Literatur, noch ein Happy-End: Im April 1945 hielt der NSDAP-Chef des Ortes eine Rede. Er drohte jedem, der die Stadt ohne Erlaubnis verlasse, die standrechtliche Erschießung an. Nach der Rede verließ er die Stadt in Zivil und wurde, eher versehentlich, von den anrückenden Amerikanern erschossen. So können Orte am Rand, nur ganz kurz versteht sich, zur Mitte der Geschichte werden.

Nur einmal in der langen Kette kluger, wohlformulierter Nachdenklichkeit irrt der Autor. Von den Plätzen weiß er zu erzählen, denen er misstraut, weil sie ihm zu wenig Rand sind. Aber eine Ausnahme lässt er zu: Den Ludwig-Kirchplatz in Berlin lobt er als »ein großartiges Versteck«. Doch an diesem Platz haust die »Stiftung Wissenschaft und Politik«, jener Denk-Tank, aus dem die Bundesregierung ihre außenpolitischen Pläne zapft. Wie jenen, zu dem, was denn aus Libyen werden sollte, nach dem Sieg der »Opposition«. Der Plan für die Ukraine bleibt noch in deren Schubladen-Schlupfwinkel. Aber bald könnte er mitten unter uns sein. So, wie die Stiftung längst Mitte, nicht Rand von Regierungsentscheidungen ist.

Jochen Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer. 51 Geländegänge. Edition Nautilus. 128 S., geb., 19,90 €.

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