nd-aktuell.de / 27.10.2014 / Kultur / Seite 2

Halte Dich von den Siegern fern ...

Hans-Eckardt Wenzel über eine Protestresolution, den Weltgeist, Utopien und schmerzhaftes Scheitern

Massendemonstrationen, 4. November, Mauerfall, Ende der SED - der umwälzende Herbst 1989 hatte einen seiner Impulse auch in jener mutigen Resolution[1] der Rockmusiker und Liedermacher im September 1989. Sie waren einer der Autoren.
Im Frühsommer jenes Jahres kam ich aus Nikaragua, von einem vierteljährlichen Arbeitsaufenthalt, ich hatte an einem Theater ein Stück inszeniert. Ich kehrte in ein totes Land zurück - der Eindruck wurde verstärkt durch die besondere Erfahrung Lateinamerika: Süden bedeutet quirliges Leben, Blühen, Farben. Und dann diese DDR-Lethargie, das Graue und das Trübe. Die Leute verließen das Land, die Regierung schwieg.

Aber Ihre Resolution drohte doch ein Papier ohne mediales Echo zu werden.
Wir hatten uns gewissermaßen auf den heiligen Schwur geeinigt, diesen Text nicht in den Westen zu geben, aber - solange er in der DDR nicht veröffentlicht würde - unbedingt andere Wege der Verbreitung zu suchen. Wir verpflichteten uns, die Resolution bei jedem Auftritt zu verlesen, bis sie in offiziellen DDR-Medien veröffentlicht würde. Das zog logischerweise ängstliche oder forsche Absagen von Konzerten nach sich. In dieser Situation gab es sehr absurde Momente.

Zum Beispiel?
Ich bekam den Literaturpreis der Stadt Halle, es gab einen hochoffiziellen Festakt im Rathaus, in Anwesenheit auch der SED-Bezirksleitung. Vor der Veranstaltung nahm ich meinen Verleger zur Seite und deutete ihm an, dass es Ärger bei der Preisvergabe geben würde, warum, darüber könnte ich ihn in Kenntnis setzen - aber wenn er es nicht wissen wolle, dann könne er guten Gewissens sagen, auch er sei überrascht worden. Er wollte nicht wissen, was ich sagen würde. Ich erhielt den Preis und bedankte mich mit dem Verlesen der Resolution. Eisiges Schweigen! Ich las, blickte auf, verließ den Saal, stieg in mein Auto und fuhr aus der Stadt.

Mit welchen Gedanken?
Dass es das eine ist, so etwas zu schreiben, und das andere, es laut vorzulesen. Auch der kleine Mut will aufgebracht und durchgehalten sein.

Wie betrachten Sie Ihr Leben in der DDR?
Ich war Teil eines Systems, in dem ich Beschränkungen unterworfen war, in dem ich jedoch auch Möglichkeiten hatte, etwas durchzusetzen.

Von den sozialistisch-reformerischen Träumen Ihrer Resolution ist nichts geblieben.
Doch, die Wahrheit, dass das Leben der Tod einer jeden Planung ist. Bei einem Weltenwechsel ändern sich die Beschränkungen wie die Möglichkeiten - aber von der Wechselspannung zwischen beidem wird jede Existenz bestimmt, in der damaligen wie in der jetzigen Gesellschaft.

Wollten Sie ausreisen?
Um 1988 herum ging es mir nicht besonders gut, was Veröffentlichungen betraf. Auch hatte ich gesundheitlich beträchtliche Schwierigkeiten. Ich bekam das Angebot für einen Pass, der Weg in den Westen wäre also möglich gewesen. Aber mich interessierte dieses andere Deutschland nicht. Ich sah da keine geschichtliche Offenheit, so, wie ich sie auch jetzt nicht sehe. Aber raus wollte ich aus der DDR - also ging ich nach Nikaragua, arbeitete dort zunächst in einem Krankenhaus.

Waren Sie infolge des Herbstes 1989 enttäuscht vom Volk?
Dass die Dinge in der DDR aus jenem Ruder liefen, das die Verteidiger eines wirklichen Sozialismus meinten in der Hand zu haben - das muss man nicht unbedingt aufs Volk schieben. Wir wissen mittlerweile, dass sehr vielen Prozessen, die auf den ersten Blick einen sehr spontanen Eindruck erweckten, ein hohes Maß an Steuerung innewohnte. Um Stimmungen zu erzeugen, gibt es Rezepte.

An welche Stimmungen denken Sie?
An das alte Nationale und das ebenso alte Intellektuellenfeindliche.

Für die dringend nötige Wende der Ereignisse waren Intellektuelle sehr wirksame Leute gewesen.
Es ließ sich mit Dumpfheit kein Protest organisieren und auch nicht mit Berufung auf die große Zahl, wie es die Demokratie tut - man konnte in der DDR nur mit Klugheit widersprechen. Die Oberen fürchteten die Klugheit, und deshalb hatte Intellektuellenfeindlichkeit eine gewisse Tradition.

Wieso bedurfte es der Klugheit?
Die DDR-Mächtigen bezogen ihre Rechtfertigung nicht aus dem Zuspruch einer Mehrheit, sondern ganz aus Gerechtfertigtsein durch eine scheinbar revolutionäre Mission. Das ergab einen interessanten Widerspruch: Ein System definiert sich auf ganz besondere Weise inhaltlich - und muss mit der Zeit alle fürchten, die diesen Inhalt ernst und wörtlich nehmen.

Erinnerung siebt, sie hat Filter. Geschichtsschreibung hat besonders einseitig ausgerichtete Filter.
Wir richten unsere Erinnerung auf das, was uns gegenwärtig wichtig erscheint. Walter Benjamin schrieb: Der Gang in die Geschichte erfolgt einzig über unser jetziges Interesse. Geschichte wird oft genug nurmehr entsorgt, als sei sie bloßer Unsinn gewesen - so versucht man, der Gegenwart übermäßig Sinn zuzuschreiben. Was den Unsinn, die Eitelkeit des jeweils aktuellen Handelns meist nur nur vermehrt.

Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff der politischen Kunst?
Mein bleibender Bezugspunkt ist, so weltfern es klingen mag, die Kunst. Das Politische wurde und wird mir durch Verhältnisse aufgezwungen.

Ist die Kunst ein Elfenbeinturm?
Wenn ja, dann im Sinne Flauberts: »Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern ...«

Man muss das Politische benennen, wenn Kunst wahrhaftig sein soll?
Ja. Aber ich halte es mit dem Satz von Hanns Eisler: Überpolitisierung in der Kunst führt/ zur Barbarei in der Ästhetik. Ich kann noch heute alle meine Lieder aus der DDR singen. Die Themen haben sich nicht erledigt. Das heißt: Ich habe mich damals in einem Maße auf die Verhältnisse eingelassen, das zugleich über diese Verhältnisse hinauswies, ich verfiel nicht dem einengenden Provinzialismus. Der Versuch, wahrhaftig zu sein, erschwert politische Instrumentalisierung, die man zu DDR-Zeiten Parteilichkeit oder Klassenstandpunkt nannte.

Sie waren, gemeinsam mit Steffen Mensching, jahrelang der Clown. Und führten für Ihr Kunstverständnis gern das Beispiel des großen Musikal-Clowns Grock an: Der setzt sich ans Klavier, stellt aber fest, dass es viel zu weit weg von ihm steht. Er rückt aber nicht den Hocker ans Klavier, sondern zieht das schwere Klavier zu sich heran.
Es kommt darauf an, dass man die Perspektive wechselt und auf die bestehenden Verhältnisse von einer ganz anderen, etwas schrägen und vielleicht sogar absurden Position auf die Dinge schaut.

Man darf sich sozusagen nicht anstecken lassen vom Betriebsgeist der Dinge.
Die Logik des Determinismus katapultiert uns aus unserer ursprünglichen Hoffnung vom selbstbestimmten Leben hinaus. Es gibt diesen schönen Text von Erich Mühsam: »Du armes Volk! Von aller Welt betrogen,/ besiegt im Kampf, im Sehnen selbst besiegt,/ sinnst du, das Hirn mit Wissen vollgesogen,/ der Frage nach, woran dein Unglück liegt.« Also: Wir sind Gefangene von Fremdsteuerungen. Die Szene mit Grog führt Existenz auf ihren wahren Sinn zurück: Die Dinge haben sich nach uns zu richten und nicht wir nach den Dingen. Wenn man aber Bestandteil eines Systems ist, kann man das System nicht analysieren. Das heißt, man muss sich dem System entwinden, um es zu erkennen. Das ist das Prinzip des Clowns. Im Karnevalismus wird der Esel zum König, indem er uns offenbart, dass der König ein Esel ist - so wird die Welt plötzlich durchschaubar.

Sie geben schon lange nicht mehr den Clown.
Weil wir in einer Welt leben, in der so ziemlich alle den Impetus des Clowns übernommen haben. Jeder schaut morgens in den Spiegel und überlegt, welche Maske er anlegen kann, um einen Sieger geben zu können.

Wer sich nicht schminkt und kostümiert, gilt als besonders raffinierter Verkäufer auf dem Markt der Maskeraden?
Der Clown des Mittelalters brauchte für seine Wirkungen die katholische Ordnung, und so wie diese auf einen einzigen Punkt von Herrschaft konzentriert blieb, war auch der gehabte Sozialismus eine zentrierte Welt - fokussiert auf den Weltgeist, auf die Siegerschaft in der Geschichte, auf die historische Mission. Nur wenn die Welt zu einem Punkt zusammenschießt, kann man sie aushebeln. Mein Philosophie-Professor Wolfgang Heise sagte immer: Wenn man die Welt nicht als eine Einheit denken könne, sei sie nicht veränderbar. Wir leben in diesem Zustand, in dem Einheit, Ganzheit nicht mehr denkbar ist. Alles zersplittert in Patchworkwelten und Partikularinteressen. Wir stolpern durch lauter Segmente, nichts fügt sich mehr zusammen. Und aus dem Clown ist der kombatible Comedian geworden, dieser dumme Ochse, der Witze von der Abiturientenfeier im Fernsehen vorträgt, und Tausende lachen darüber.

Sie haben geschrieben, der Weltgeist trage heutzutage einen modischen Kittel und begehre, auch dem Zeitgeist zu gefallen. Was trug der Weltgeist in der DDR?
Der Weltgeist war in der DDR permanent anwesend, in jedem grauen Anzug oder Anorak schien er wächterisch zu lauern. Er wachte darüber, dass respektlose Geister nicht die vermeintliche Logik der Geschichte in Misskredit brachten, diesen unumstößlichen Beschluss also, es gebe den unumkehrbaren geschichtlichen Schritt vom Niederen zum Höheren. Ein fundamentaler Trugschluss.

Ein Zitat aus einem Ihrer Lieder: »Halte Dich von den Siegern fern, halte Dich tapfer am Rand./ Jedes Tier hat das Leben gern und jedes Meer einen Strand./Schulden steigen, Sterne fallen, nur die Hühner legen Eier./ Doch vergiss nicht bei dem Allen, auf unserer Fahne hockt ein Geier.« Sie sind ein Arbeitender am Rande, in der Außenseiterschaft. Wie hält man das aus?
Die Souveränität dafür muss man lernen. Klar, wenn man ganz am Anfang steht, projiziert man sich selber auf die Bilder der Popstars und wünscht sich dreißig Mädels in die Garderobe.

Sie haben das Schöne erfahren; große Tourneen, viel Publikum.
Es ist wirklich nicht kokett: Ich dachte mitten im großen Erfolg, dass dies kein guter Zustand sein kann. Weil das Nachdenken über das, was mich zornig macht oder beseelt, durch mediale Umzingelungen gestört wird.

Der Künstler will Öffentlichkeit!
Ja, die Suche danach und die Scheu davor - das bleibt ein unlösbarer Widerspruch. So wie Nähe und Ferne stets nur im Konflikt miteinander auskommen. Aber mir werden mit zunehmenden Alter die Momente unverzichtbar, in denen ich frei denke, schreibe und singe - ohne den Einspruch ertragen zu müssen, mit dem mich früher eine Bezirksleitung störte und mit dem mich heute eine Plattenfirma stören kann. Ich bestehe auf Selbstverwaltung meiner Zeit, die begrenzt ist, und der kommerzielle Zwang ist so unangenehm wie der ideologische. Die Gleichschaltung beibt eine Weltmacht, in allen Sprachen gibt es diesen Aufruf zum Opportunismus - der macht meine poetische Stimme heiser, macht sie krank.

Eigentlich wollten Sie Lehrer werden.
Aber wegen meiner Stimme wurde ich abgelehnt. Es hieß, ich hätte - nach Jahren in einer recht grob gestrickten Rockband - Schreiknötchen und könne nie länger als zehn Minuten laut sprechen. Also studierte ich Ästhetik. Ich strebte wirklich nach Bestleistungen, und es gab in der DDR, wovon Studenten heute träumen:nach dem Studium einen Vermittlungszwang. Nun hatte ich zwar studiert, um klüger zu werden, aber doch nicht, um zu arbeiten. Also wurde ich freischaffender Künstler

Wem überhaupt kann der Künstler trauen?
Nur sich selber. Wenn ich mir selbst nicht mehr traue, dann kann ich auch nicht kühn sein. Nun habe ich freilich dieses unglaubliche Glück, von meiner Arbeit leben zu können. Und mein Herz schlägt nicht höher, wenn das Lock- und Verderbenswort »Fernsehen« tönt. Ich bin nicht scharf auf den Basar für Schnellverkäufe. Diese Unbestechlichkeit empfinde ich als einen unglaublich guten Zustand.

Was ist das für Sie - Kühnheit?
Das, was ich eben sagte: auf keine äußeren Bedingungen Rücksicht nehmen zu müssen, sondern nur das zu tun, was mir wichtig ist. Ungeschützt zu denken und zu fühlen und dafür einen Ausdruck zu finden, der nur mich angeht und der auch nur von mir ausgeht.

Sie schreiben zuerst für sich selbst?
Ja. Weil mich ein Mangel drückt. Weil mir etwas fehlt. Weil ich einen Schmerz spüre, den ich als lebbar empfinden möchte. Nur ein geringer Teil der Lieder, die ich verfasse, gelangt an die Öffentlichkeit. Ich entscheide frei, ich leide nicht unter dem Druck, eingängig zu sein. Kühnheit ist für mich: In der Beobachtung genau und im Selbstgespräch mit mir absolut rücksichtslos offen zu sein.

Sie waren im Frühjahr mit Ihrer Band auf Kuba, bald erscheint eine CD. War da auch Melancholie im Spiel: Erinnerung an die DDR?
Ja, uns interessierten gewissermaßen Rest-Erfahrungen mit dem Sozialismus. Ich traf Musiker-Freunde, die keine Saiten für die Gitarren haben. So ging es mir früher auch.

In einem der Lieder heißt es: »Die Dächer sind überfüllt mit Antennen,/ wann kommen die guten Nachrichten, wann?/ Die Wellen wie irr an das Ufer rennen,/und die Leute stehen an den Läden an.// Was gibt es zu kaufen, was gibt es zu hoffen,/ für welches Geld und für welchen Preis./ Den Autos stehen die Mäuler offen, uralte Motoren kochen sich heiß.// Havanna wartet und schaut auf das Meer./ Wer wird wohl kommen und was bringt er her?/ Kommt ein Schiff mit Melonen? Kommt ein Makler mit Geld?/ Kommen Möwen oder Drohnen hinterm Meer aus der Welt?« Da schwingt Trauer mit: Die Zukunft könnte kapitalistisch sein, und im ersehnten Wohlstand lauert das alte Elend, in der Freiheit die alte Fesselung.
Ich bin hin- und hergerissen. Natürlich verstehe ich, dass die Menschen mit dem gleichen sehnsüchtigen Blick auf den Wohlstand warten, wie in der DDR auf die Intershops geschaut wurde. Und ich hüte mich vor dieser linken Überheblichkeit, die Entsagung und Bescheidung als Tugenden wider die Ideologie des Konsumismus predigt. So was kommt von Leuten, die selber satt im Wohlstand sitzen.

Leute, die diesen unsympathisch hautblassen Asketismus ausstrahlen, der auch nur eine Form des Fundamentalismus ist.
Ich habe auf Kuba kluge Menschen getroffen, die alle wissen, dass mit dem materiellen Wohlstand, der so sehr nach US-Amerika riecht, die soziale Revolution möglicherweise in die Knie geht. Aber zum Wesen unserer Gattung gehört, dass nicht alle Menschen bei der Bestimmung ihrer Bedürfnisse automatisch und verlässlich die sozialen Bedürfnisse an erste Stelle rücken. Bedürfnisse lassen sich nicht per Bewusstsein steuern, und ein System, das für Arbeit, Wohnung und bestmögliche Kinderfürsorge Dank erwartet, muss in geistige Verwirrtheit geraten, denn: Menschen sind gern allem dankbar, aber nicht dem Staat.

Es gibt nicht wirklich noch Utopien, die hoch- und mitreißen.
Der Kapitalismus glaubt, am Ende der Geschichte angekommen zu sein, und dieses Gemüt strahlt unangenehm aus. Es wirkt alles so, als sei die Welt bei sich angekommen. Gibt es noch Bruchstellen? Natürlich denke ich jetzt wieder an Kuba, wo die Kinder mit dem höchsten Alphabetisierungsstandard aller Kontinente mit einem wunderbaren Gesundheitssystem leben. Welch eine Kostbarkeit!, möchte man immer wieder ausrufen. Aber die sozialen Kostbarkeiten haben auch die DDR nicht gerettet. Der Weltzustand ist einer des Danach, kein Zustand der Auferstehung, des Widerstehens.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem niemand weiß, aus welcher Ecke neue gesellschaftliche Impulse kommen könnten.
Von unten auf? Wie es Thomas Müntzer vordachte? Wer weiß. Auf jeden Fall wird es darum gehen müssen, irgendwie für Unordnung in der falschen Ordnung zu sorgen. Am wichtigsten ist Verunsicherung, weil wir uns im Gleichgewicht am schnellsten bequem machen. Es gibt tausend Wege, sich vom herrschenden System zu verabschieden und außenseiterisch zu leben - und jeder Weg ist doch dazu verdammt, das System zu stützen. Wieder Walter Benjamin: »Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es so weitergeht.« Immer geht alles so weiter wie bisher. Jeder Protest schockiert für drei Geschichtssekunden, ehe er als Markenware und Kulturgröße eingemeindet, also vermarktet wird.

Hans-Eckardt Wenzel, Sie bezeichneten sich, auf die DDR bezogen, als einen Vertreter der »Zwischengeneration«. Was war das für eine Generation?
Ich gehöre einer Generation an, die mit einem gewissen Zwang zur Loyalität groß wurde und gleichzeitig nicht mehr innig daran glaubte. Die Strafen für das Unartigsein waren viel geringer und nicht mehr in der Art lebensbedrohlich wie noch ein paar Jahre zuvor. Ich musste mir die Welt aus der Phantasie, aus den Büchern, den Gedichten und der Geschichte zusammenfügen. Wolfgang Heise warnte uns vor einer »Fetischisierung der Unmittelbarkeit«. Wovor er warnte, das war die Selbstlüge, sich selber klein zu denken, nur weil die verfügbare Welt klein war. Wir mussten der Provinz entkommen, dem »leeren Augenblick«, wir reisten auf anderen Wegen in die Welt.

Als Schüler kauften Sie sich eine Goetheplakette, strichen die rot durch und hefteten sie sich an Ihren Parka. Protest. Wogegen?
Ich habe mich immer mit Schwachen und Gescheiterten solidarisiert. Das ist meine Haltung zur Welt. Siegern misstraue ich. Goethe war für mich ein Sinnbild für die Verbrüderung von Poesie und Politik und Staatswesen - und dann diese langweilige Fähigkeit, stets alles erklären zu können. Natürlich war diese Haltung auch meiner jugendlichen Dummheit geschuldet, aber ich habe ihm nie verziehen, dass er Hölderlin nicht begriff, Lenz abkanzelte und Kleist arrogant abwies.

Wer Maßstäbe hat und lebt, lernt zwangsläufig das Scheitern kennen. Zwangsläufig, ja. Aber mitunter wird über das Scheitern gesprochen, als gelte es eine Tugend zu beschwören. Sogar von der Kunst des Scheiterns geht gern die Rede.
Man soll das Scheitern nicht schönreden. Es bleibt etwas sehr Schmerzhaftes, und niemand möge so tun , als sei mit indischen Weisheitssprüchen aus der Kiste der Genügsamkeit ein gebrochenes Herz heilbar. Niemand will scheitern - worum es geht, ist eine Kultur der Würde dann, wenn die Niederlage nicht zu vermeiden war.

Ich wollte auf eine Äußerung hinaus, die Sie im Zusammenhang mit dem Scheitern machten: Es gehe darum, »im Enttäuschtsein, nicht zu vereinzeln«. Was trug Sie und trägt Sie?
Mich trägt die Musik, mich trägt die Poesie, mich trägt meine Familie, mich tragen Freunde.

In einem früheren nd-Gespräch mit Martin Hatzius verwiesen Sie auf ein Wort, das Ihnen wichtig ist: Zorn.
Das erste Wort der »Ilias«.

Philosoph Peter Slodterdijk schrieb: »Es ist das erste Wort Europas und das Wort war erfolgreich.« Also: der Zorn als entscheidender Trieb für die Entwicklung unserer Zivilisation. Hat Ihr eigener Zorn im Laufe der Jahre abgenommen?
Ich glaube, mein Zorn lässt nicht nach. Aber den Zorn als einziges Motiv zu nehmen, würde ich nicht als hinreichend ansehen.

Was noch?
Die Zärtlichkeit, das Schenkenwollen.

Sind Sie gern Deutscher?
Die Definition durch Nationalität habe ich für mich nie aufgegeben. Deutschlandhass ist für mich eine Form der Unkultur, der fehlenden Bildung. Ein ideologischer Ersatz - wofür, weiß ich nicht. Die deutsche Klassik, die deutsche Musik, die deutsche Literatur - das ist etwas, von dem ich lebe, das ist etwas Großartiges, ein Schatz, den andere Völker nicht haben. Oder das deutsche Volkslied! Und all das ist nicht zu trennen von dem, was zum deutschen Staat führte - so kritisch ich dem auch gegenüberstehe. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der das Regionale und Kulturelle in allgemeine Beliebigkeit überführt werden soll. Dann sind alle Orte gleich auf Erden, wie im Internet. Dann wird die Welt zum Surrogat.

Jetzt ist Herbst, Nebelzeit - mir scheint, Sie messen den Wandlungen des Gemüts in dieser dunklen Phase des Jahres eine starke Bedeutung bei.
Der Herbst führt an Abschiede heran. Ich wurde im Juli geboren, das heißt, ich bin Ende Oktober, Anfang November gezeugt worden. Vielleicht bin ich ein Kind der speziellen Melancholie. Es gibt den schönen Hegel-Satz, dass man den Sinn einer Sache erst an ihrem Ende erkenne. Also da, wo man das System verlässt. Da, wo man dem Tode nahe ist. Da, wo unser erzwungener, fremdbestimmter Optimismus bröselt. Da, wo keine politische Confessio mehr gegen die Einsamkeit der Wahrheit hilft: Wir kommen auf die Welt, und wir sterben. Ich finde es traurig, wenn Menschen nur immer in politischen und weltanschaulichen Strukturen denken, wenn sie völlig aufgehen in der sogenannten Sache und irgendwann entweder unbelehrbar oder entsetzlich verloren in der Unausweichlichkeit ihres fragmentarischen Lebens stehen.

Mussten wir als DDR-Bürger das vielleicht am stärksten lernen: einen Nerv zu entwickeln für das Unerklärliche in der Welt und im Menschen?
Wenn man in den Schriften von Marx und Engels liest, dann stößt man auf starke metaphysische Momente, auf Poesie. Das wird gern verdrängt, man möchte die klare, eindeutige Ratio. Der Kleinbürger hat Angst vor Metaphysik, er will die Katechisierung der Dinge, um sich nicht verunsichern zu lassen. Aber Verunsicherung ist die erste Pflicht, in die sich gerade auch das linke Denken begeben muss.

Her mit dem Herbst!
Dieses mähliche Eindunkeln der Welt gibt einem gerade in deutschen Landen alljährlich einen hilfreichen Schlag ins Genick: Denk über deine Vorläufigkeit nach!

Links:

  1. http://www.ddr89.de/ddr89/mfs/mfs1.html#Anlage5