Ein Mythos wird zum Menschen

Ein Biograph enthüllt Legenden um den großen Ryszard Kapuscinski

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Autoren in aller Welt haben ihn bewundert. Für Salman Rushdie war er der Dechiffrierer eines düsteren Jahrhunderts, García Márquez nannte ihn den »wahren Meister«. Leser geraten ins Schwärmen, wenn sein Name fällt; viele andere haben diesen Namen nie gehört: Ryszard Kapuscinski. Egal. Wer einmal ein Buch des polnischen Reporters zur Hand nimmt, gerät in seinen Sog. - Ein Bericht aus Nigeria, von 1966: »Der Chef der Operation an der Barrikade versetzte mir einen Schwinger ins Gesicht. Ich spürte süßliche Wärme im Mund. Dann übergoß er mich mit Benzol, denn hier werden alle Menschen mit Benzol in Brand gesteckt, weil das am besten brennt. Ich empfand animalische Angst. Sie hielten mir ein Messer vor die Augen. Sie hielten mir ein Messer ans Herz.«

Ryszard Kapuscinski kommt 1932 im damaligen Ostpolen zur Welt. Die Eltern sind Lehrer. Er studiert Geschichte in Warschau und wird Journalist, linientreu - ein Berichterstatter der Partei. Mit 24 fliegt er in die Dritte Welt, und die wird ihn nicht mehr loslassen. Mit Hingabe bereist er Asien, Nahost, Lateinamerika, vor allem Afrika. - Eine Reportage aus Ghana über eine Kundgebung des Befreiungskämpfers Kwame Nkrumah: »Die Menge steht auf dem West-End-Platz. Die Menge steht in der Sonne, unter dem blauen Himmel Afrikas. Die Menge steht und wartet auf Nkrumah, die schwarze, geduldige Menge, die verschwitzte Menge ...« Kapuscinski erlebt die Welt zweigeteilt, in Arm und Reich. Er wird ein Fährmann zwischen Nord und Süd, er lebt und kämpft mit denen, die er beschreibt. Seine Reportagen begeistern. Seine Bücher werden Bestseller, zwei vor allem: »König der Könige« (1978) über den äthiopischen Kaiser Haile Selassie und »Schah­in­schah« (1982), ein Psychogramm der iranischen Revolution.

Ein Schüler und Freund Kapuscinskis sorgte 2010 in Polen für Aufsehen: mit einer Biographie. Artur Domoslawski hat drei Jahre recherchiert, sogar im Warschauer Privatarchiv seines Mentors. Er folgte seinen Pfaden durch die Welt, er sprach mit Dutzenden Bekannten - und dann, dann hat er das Idol entzaubert.

Ein eigentümlicher Mensch sei er gewesen, dieser Ryszard Kapuscinski, meint Domoslawski. Ein Stalin-Verehrer und doktrinärer Romantiker, besessen von Kriegen, Rebellionen, ein Opportunist mit exzellenten Drähten nach oben. Ein Verführer war er. Ein Mensch, der schon auf leise Kritik mit Wutanfällen reagierte. Ein Mann mit einer Maske. - Das Buch provoziert in Polen heftige Debatten. Einige Leser sehen ein nationales Monument bedroht, für andere wird ein Mythos nun zum Menschen.

Domoslawski zeigt: Ryszard Kapuscinski hat manipuliert, er hat den faktischen Hintergrund seiner Reportagen verändert, verdreht. Selbst »König der Könige«, dieses berühmte Buch, besteht offenbar aus Fabeln und Geflunker. Der Biograph hat einen Bekannten des Reporters in Äthiopien besucht, einen Maler. Der Maler sagt: »Kapuscinski war ein zauberhafter Mensch. Aber sein ›König der Könige‹ ... das sind Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Was daran unwahr ist? Fragen Sie lieber, was daran wahr ist.«

Kapuscinski schönte auch die eigene Biographie. Er schwieg über seinen inquisitorischen Eifer im Dienst der Partei und über die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst. Hat der Reporter Informationen geliefert? Er hat, sagt Domoslawski. Wie alle Korrespondenten. Aber: nicht viele, nur ein paar Jahre, nichts von Bedeutung. Der Biograph berichtet von selbstgeschaffenen Mythen. Beispiele: Kapuscinski heroisierte den Werdegang des Vaters während des Krieges. Und er übertrieb die Risiken der eigenen Touren durch die Welt. Gleich ein paarmal sei er fast erschossen worden - Reisegefährten wissen nichts davon. Und schlicht erfunden hat Kapuscinski auch seine Freundschaft mit linken Ikonen: Patrice Lumumba in Kongo, Che Guevara in Bolivien, Salvador Allende in Chile. Domoslawski: »Seine Leser verführte er mit Mut und dem Bild des Macho-Reporters. Er hat hervorragend verstanden, dass zu guter Literatur die sie umgebende Aura gehört, die Legende des Autors.«

Domoslawskis Biographie zeigt Mängel. Der Text mit seinen fast 700 Seiten ist drastisch zu lang; der Autor wiederholt sich, verliert sich, schweift ab. Aber über weite Strecken wird das packende Porträt eines Literaten selbst zu Literatur, mit Farbe und Licht, Geruch und Geschmack. Wie steht der Verfasser am Ende zu seinem Idol von einst? Artur Domoslawski hat alle seine Vorwürfe belegt. Doch er sagt - und wir, die Leser, stimmen ihm zu: Die Schwächen des Werks mindern nicht seine literarische Qualität. Die Texte des Ryszard Kapuscinski, sie bleiben ein aufwühlendes Erlebnis.

Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski - Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska und Benjamin Voelkel. Rotbuch Verlag. 686 S., geb., 24,99 €.

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