Frau Scharlach hat Sehnsucht

»Die Ostdeutschen« - eine Dokureihe im RBB

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Jahr 2010 bekam Gabriele S. (und mit ihr 16 Millionen ehemalige DDR-Bürger) es amtlich - ein Stuttgarter Arbeitsgericht urteilte, dass es sich bei den »Ossis« um keine eigene Ethnie handelt. Eine süddeutsche Fensterbaufirma hatte ihre Bewerbung als Buchhalterin abgelehnt, als Frau S. die Bewerbungsunterlagen zurückbekam, prangte neben dem Lebenslauf der handschriftliche Vermerk des Fensterbauers. »(-) Ossi!«. Minus-Ossi: Die Richter urteilten, der Vermerk könnte zwar als diskriminierend verstanden werden, aber nicht wegen der ethnischen Herkunft. Diese drücke sich in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder in gleichartiger Ernährung aus. Aber bis auf die territoriale Herkunft fehle es den Ostdeutschen daran und überhaupt haben sie in der DDR nur etwas mehr als eine Generation, 40 mittlerweile in den Geschichtsbüchern verschwindende Jahre lang, eine unterschiedliche Entwicklung als zu den Deutschen in der Bundesrepublik genommen.

Nun ist es mit den Richtersprüchen wie mit den Jahrestagen: Als Signalpflöcke in den Lauf der Zeit gerammt, suggerieren sie kollektive Brüche und Entscheidungen, wo doch das Leben des Einzelnen sich nur selten an diesen Pflöcken wendet oder per Stichtag einen neuen Weg einschlägt. 25 Jahre her ist nun, dass die Bundesrepublik größer wurde, die DDR dagegen verschwand. 25 Geschichten von Ostdeutschen erzählt ein Regiekollektiv unter der Leitung von Lutz Pehnert, die ab Montag eine Woche lang im RBB gezeigt werden: Was kam nach Schabowskis Zettel und Währungsunion? Die Ostdeutschen - nicht doch ein eigener Stamm?

Mehr als vier Millionen Menschen sind seit 1989 aus der ehemaligen DDR in den Westen gegangen, ein Viertel der Bevölkerung in einem Vierteljahrhundert. Anne-Kathrin Scharlach ist eine von ihnen. Seit 13 Jahren wohnt sie in Minden, tiefstes Westfalen. Seit ein paar Jahren arbeitet sie dort in der Fachbibliothek für Architektur und Bauingenieurswesen. Sie lächelt oft, doch ihre leise Stimme und ihre Augen zeigen: Glücklich ist sie nicht. Frau Scharlach hat Sehnsucht. So oft es geht, steigt sie in ihr Auto und fährt dahin zurück, wo ihr altes Leben war. Sechs Stunden braucht sie bis Weißwasser, von wo sie im Jahr 2000 mit ihrem kleinen Sohn Paul wegzog. »Ich wollte nicht die Letzte sein, die das Licht ausmacht«, sagt sie. Die Menschen verließen die Stadt wie die Arbeit, bis zur Wende lebten 38 000 Menschen hier, heute sind es halb so viele. Das Neubaugebiet Weißwasser-Süd, wo sie mit ihrem Sohn lebte, ist heute ein Wald. »In nicht einmal 30 Jahren wurde hier ein Wohngebiet aus dem Boden gestampft und wieder eingestampft«, sagt sie an der Straßenecke ihrer alten Straße. »Aber so ist es halt.« Wenn sie ihre Arbeit und die Kollegen aus Minden zurücknehmen könnte, wäre alles gut: »In Weißwasser war ich arbeitslos. Hier bin ich heimatlos.« Aus Heimweh wurde Sehnsucht, die hat sie sich selbst verschrieben. Denn Sehnsucht muss sich nicht erfüllen.

Bianca Urban hat kein Heimweh. Die blonde Frau mit dem aufmerksamen Blick hinter den Brillengläsern ist in Märkisch-Buchholz aufgewachsen und nach dem Studium und einer Zeit in Stralsund in den idyllischen Ort zurückgekehrt, der Familie, der Freunde und auch der Ruhe wegen. Zwei Mal ist sie seit 2008 zur Bürgermeisterin gewählt worden, beim letzten Mal mit mehr als zwei Drittel der Wählerstimmen. Und doch wollte Urban erst nicht weitermachen. Märkisch-Buchholz liegt nur fünf Minuten von Halbe entfernt. Dort marschierten jahrelang Nazis zu ihrem »Heldengedenken« auf. Und seit drei Jahren ist Märkisch-Buchholz auch nicht mehr frei vom braunen Spuk: Sven Haverlandt von der NPD hat im Ort ein Büro der rechtsextremen Partei eingerichtet, im Mai trat er gegen Urban bei der Bürgermeisterwahl an. Er scheiterte zwar krachend, zog aber in die Stadtverordnetenversammlung ein. Mit dem fünftbesten Ergebnis von 25 Bewerbern. Urban, die sich seit Langem gegen Rechts engagiert, war konsterniert: »Mir war überhaupt nicht klar, dass wir hier so ein rechtes Potenzial haben.« Urban überlegte, ob sie ihre Wahl annehmen sollte. Sie entschied sich, weiter ehrenamtlich Bürgermeisterin zu bleiben, auch wenn die Familie in den letzten Jahren zurückstecken musste. Und bleibt dabei kompromisslos in ihrer Ablehnung der Nazis.

Das sind nur zwei der 25 Geschichten, die von den Regisseuren als einzelne Puzzlestücke zusammengetragen wurden. Die Regisseure, Filmemacher und Autoren des multimedialen Projekts, neben den Filmen erscheint ein Buch mit den Porträts im Ch. Links Verlag und eine Serie in der »Berliner Zeitung«, erliegen dabei nie der Versuchung, ein Bild »der Ostdeutschen als solcher« zu schaffen, das nur ein Flickenteppich hätte werden können. Dazu sind die Biografien zu unterschiedlich und zeigen auch mehr als nur eine Generation: Von der bis heute überzeugten Kommunistin der »Generation Wiederaufbau« über die große »Generation Mauer«, die die Wende in der Mitte des Lebens traf, bis zur »Dritten Generation Ost«, die in den 90er-Jahren aufwuchs und deren Zugehörige trotzdem beim Lied von der Patenbrigade und der Bonbonfabrik einen Stich im Herzen spüren, auch wenn sie es auf ihrem MP3-Player in Paris oder sonst wo auf der Welt hören. Die sich die verschwundene kleine DDR nicht mehr vorstellen können, die da in ihren Lebensläufen, unbeeindruckt von Pflöcken und Jahrestagen, wirkt.

»Die Ostdeutschen - 25 Wege in ein neues Land«, 3. bis 7.11., täglich 22.15 Uhr, RBB

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