nd-aktuell.de / 05.11.2014 / Politik / Seite 5

»Was ist los mit diesem Land?«

Ein Buch sammelt die Erfahrungsberichte von Hinterbliebenen, deren Angehörige dem NSU-Terror zum Opfer fielen

Aert van Riel
Die Familien der NSU-Opfer wurden lange von Sicherheitsbehörden schikaniert. Nun legen sie ihre Sicht der Dinge in einem Buch dar.

Es ist ein Buch gegen das Vergessen. In »Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen« kommen Hinterbliebene der Opfer des rechten NSU-Terrors zu Wort. Die Ermittlungsbehörden hatten nach den Mordfällen die Täter vor allem im Umfeld der Familien gesucht. »Der Tod meines Vaters konnte nur rechtsextreme Hintergründe haben«, schreibt Abdul Kerim Simsek, Sohn des in Nürnberg ermordeten Enver Simsek. »Doch die Polizei wollte das nicht wahrhaben. Stattdessen hat man uns angelogen und verdächtigt. Da fragt man sich: Was ist los mit diesem Land?« »Ich will nicht ewig Opfer sein. Ich will wieder normal leben«, ergänzt Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet in Dortmund erschossen wurde. Abdul Kerim Simsek und Gamze Kubasik sind gemeinsam mit weiteren Hinterbliebenen zur Vorstellung des Buches nach Berlin gekommen.

Auch für Angehörige in der Türkei hatten die Morde grauenhafte Auswirkungen. Mustafa Turgut berichtet, dass die Menschen in seinem türkischen Heimatdorf nach dem Tod seines Bruders Mehmet in Rostock zu seinem Vater gesagt hätten: »Dein Sohn hat in Deutschland bestimmt Drogen verkauft.« Auch andere Gerüchte kursierten im Dorf. Angeheizt wurden diese durch die Befragungen deutscher Polizisten vor Ort. Weil die Situation unerträglich wurde, sahen die Eltern des ermordeten Mehmet schließlich keine andere Lösung, als ihr Heimatdorf zu verlassen.

Die Situation der Hinterbliebenen änderte sich, nachdem die NSU-Terrorzelle um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vor drei Jahren aufflog. »Seitdem sind die Angehörigen handlungsfähig geworden«, erklärt Barbara John, die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen ist und das Buch, das gemeinsam vom Verlag Herder und der Bundeszentrale für politische Bildung verlegt wird, herausgegeben hat. Ein Beleg für Johns Aussage ist, dass viele Angehörige als Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess gemeinsam mit ihren Anwälten um Aufklärung kämpfen. Doch sie wissen, dass die Erfolgschancen gering sind. »Ich will wissen, wer die Hintermänner waren und warum mein Vater ausgesucht wurde«, sagt Abdul Kerim Simsek. Aber es sehe nicht danach aus, dass dies bald ans Tageslicht kommen würde.

Das liegt auch an den Sicherheitsbehörden. »Diese haben die Untersuchungen behindert oder verhindert«, konstatiert die Bundestagsvizepräsidentin und LINKE-Innenpolitikerin Petra Pau. So wurden etwa Akten vernichtet oder geschwärzt.

Im Buch kommen neben den Hinterbliebenen auch Politiker zu Wort. Sie gehören allesamt der CDU an. Die Einleitung verfasste Barbara John. Bundeskanzlerin Angela Merkel schrieb das Vorwort. In einem Abschnitt am Ende des Buches, der länger ist als jeder Erlebnisbericht der Angehörigen, durfte Clemens Binninger, der für die Christdemokraten Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags war, seine Sicht der Dinge darlegen.

Die Bundeskanzlerin hatte bei einer Gedenkfeier für die Opfer im Februar 2012 noch versprochen, dass alles getan werde, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Davon ist in ihrem Buchbeitrag keine Rede mehr. »Wir müssen aufklären und vorbeugen«, schreibt Merkel wolkig. Als weiteres Ziel gibt sie aus, »Vertrauen in unser Land« zurückzugewinnen. Die Kanzlerin muss aber auch einräumen, dass dies angesichts der Erfahrungen der Angehörigen der Opfer schwierig ist.

Binninger schreibt, dass die rechtsextreme Bedrohung von den Sicherheitsbehörden falsch eingeschätzt worden sei. Dass die Behörden sich auch kritisch mit Rassismus in den eigenen Reihen auseinandersetzen müssten, ist für ihn allerdings kein Thema. Auch V-Leute solle es laut Binninger weiterhin geben, obwohl einige dieser Verfassungsschutzspitzel im Umfeld des NSU eine zwielichtige Rolle spielten.

Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Verlag Herder, 176 S., 12,99 €