»Haste Angst? Musste nicht«

Karsten Krampitz und das allseits Verdrängte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer in der DDR gelebt hat, wird sich erinnern: Nach jedem Wetterbericht wurden die Wasserstände und Tauchtiefen verlesen. »Dein Gerede interessiert mich wie die Wasserstandsmeldung«, zitiert Karsten Krampitz ein geflügeltes Wort von einst - und hat seinen Roman dennoch so genannt. Trotzig, weil das Buch fast nur aus »Gerede« besteht? Es ist ein Monolog, der nicht zum Dialog werden kann: Was Mark Labitzke sagt, hört es der Vater überhaupt? Unklar, was er von der Außenwelt wahrnimmt nach seinem dritten Schlaganfall. Künstliche Ernährung, Windeln - wenn der Sohn ihn im Rollstuhl durch den Ort, schiebt, wo er einst Bürgermeister war, lächeln ihm manche zu: »Sieh an, der Labitzke. Ist auch nur ein Mensch.«

Ob er früher ein »autoritäres Arschloch« war, ein »Schreibtischlinker« oder doch auch ein »fürsorglicher Vater«, das ist keine sensationelle Frage. Es wird wohl ein Gemisch von allem gewesen sein. Man kann sich vorstellen, wie er war, als er noch Kraft hatte und reden konnte. Karsten Krampitz hat kein Abrechnungsbuch geschrieben - und auch keine Klagelitanei. Dass der Sohn des Bürgermeisters, das »Bonzenkind«, trotz Ausbildung zum Programmierer mit 45 schon nicht mehr auf eine Anstellung hofft, müsste man als Skandal empfinden, wüsste man nicht von vielen ähnlichen Fällen.

Der soziale Absturz als Normalität, die Ausgrenzung als etwas Gewohntes - das ist es, was dieses Buch einem erschreckend ins Bewusstsein hebt. Aber mehr als das: Es ist ein Gesellschaftsbild des Verdrängten. Alter und Armut - was da dem Einzelnen abverlangt ist an Durchhaltekraft des Ertragens, umgeben von einer Gleichgültigkeit, die man himmelschreiend nennen könnte, wüsste man nicht, aus welchem Abgehetztsein, welcher Unglücks-Bedrängung sie vielfach rührt.

Ein Katheter durch die Bauchdecke, damit beginnt das Buch: Was das bedeutet für Patient und Pflegende, dass da ein Mensch wie ein »Körperbrei« auf die Matratze gekippt ist und doch gewaschen, versorgt werden muss, auch aufgesetzt. Und was, wenn noch die zweite Niere ausfällt? »Als dein Freund sage ich dir, du bist überfordert«, meint der Arzt, mit dem Mark einst in einer Schulklasse war. Aber was soll er machen, nachdem im Pflegeheim das passierte: eine stark infizierte, tiefe, stinkende Wunde, die weder die Krankenschwestern noch die Praktikanten bemerkt hatten. Und dafür 4500 Euro im Monat?

Tochter Miriam ist berufstätig und hat Familie. Mark kommt es zupass, dass von der Rente des Vaters noch etwas für ihn abfällt. Agnieszka aus Polen wird engagiert als Pflegerin, die zieht Gummihandschuhe an und redet lange nicht darüber, dass sie todunglücklich ist, weil sie ihre Tochter bei der Großmutter in Krakau gelassen hat. Und Mark? Die Spaziergänge mit dem Vater führen meist zur Tankstelle an der Autobahn. »Das ist doch das Mindeste, was ich von der Lohnarbeit erwarten darf, die mich krank und hässlich macht, dass ich mich von dem sogenannten Lohn in einer Kneipe meiner Wahl betrinken kann. Wenigstens das!« Aber von Lohnarbeit kann nicht die Rede sein.

Ein deprimierendes Buch? Es gibt keine Chance, dass irgendetwas irgendwie besser wird. An »blühende Landschaften« haben im brandenburgischen Schehrsdorf, benannt nach dem Landmaschinenkombinat »John Schehr« (Fiktion des Autors), wahrscheinlich die Wenigsten geglaubt, aber was wir sehen, ist Erstarrung. Niedergang, der im existenziellen Sinne jedem droht.

Wir können den Blick nicht abwenden und staunen, wie viel Licht da dennoch im Dunkel ist

Der Klappentext spricht von einem Vater-Sohn-Konflikt. Aber handelt der Roman nicht vornehmlich von Sohnesliebe? Kein Kind, das nicht auch einen Vorwurf an die Eltern in sich trüge. Wir wissen nicht, warum sich die Mutter zu Tode gesoffen hat und was mit dem oppositionellen Großvater, dem Wissenschaftler Walter Kehl, geschehen ist. Das Vergangene kommt immer mal wieder hoch, aber was wir vor allem erleben, ist eine für alle Beteiligten überaus anstrengende Gegenwart, verdunkelt von Zukunftsängsten. Wie soll es weitergehen? »Ich schiebe dich durch den Ort, und wir halten es, wie die Philosophen in den Arkaden, beim Umherwandeln sinnieren wir, suchen den Sinn des Lebens ... Deine Augen flackern. Haste Angst? Musste nicht ...«

Karsten Krampitz: Wasserstand und Tauchtiefe. Roman. Verbrecher Verlag. 208 S., geb., 19 €.

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