»Jeder Hühnerzaun hier ist aus Maschendraht von der Grenze«

In Hessen und Thüringen erinnert noch manches an die deutsch-deutsche Teilung

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Nicht mal ein Wimpernschlag sind 25 Jahre in der Menschheitsgeschichte, doch ausreichend Zeit, um die Spuren vergangener Ereignisse an manchen Stellen weitgehend zu verwischen. Das kann man erleben, wenn man mit dem Fahrrad ein Stück des 32 Kilometer langen Unstrut-Werra-Radwegs entlangfährt. Wo an einem sonnigen Septembermorgen nichts weiter als eine idyllische Landschaft auszumachen ist, befand sich bis vor einem Vierteljahrhundert genau das Gegenteil: eine durch Herbizide entstandene weitgehend vegetationsfreie Landschaft, der »Todesstreifen« an der innerdeutschen Grenze. Zäune, Wachtürme, Hunde und Minenfelder dominierten hier das Bild.

Heute hat sich die Natur das Gebiet zurückerobert - fast zumindest. Nur hier und da erinnern noch Relikte aus der Zeit vor 1989 daran, dass hier einst die weltweit wohl bestbewachte Grenze war. In der kleinen thüringischen Gemeinde Südeichsfeld stößt die Radlergruppe auf einen Wachturm der DDR-Grenztruppen in Katharinenberg. Bernhardt Degenhardt vom Heimatverein Wendehausen, den sie dort trifft, erzählt, dass nach der Grenzöffnung viele Leute dafür waren, die gesamten Grenzanlagen abzureißen. Doch die Idee, einen Grenzturm als Mahnmal zu bewahren, um an die Geschichte dieses Ortes zu erinnern, setzte sich durch. Heute kann man sich in dem Wachturm zum Beispiel über Zwangsumsiedlungen informieren, die die DDR hier in der Gegend vornahm, und über das Schicksal der betroffenen Menschen.

So wie vom Heimatverein Wendehausen wurden im hessisch-thüringischen Grenzgebiet an mehreren Orten von privaten Initiativen Stätten zum Gedenken an die Zeit der Teilung eingerichtet. So etwa das Grenzmuseum Schifflersgrund in der Nähe von Bad Sooden-Allendorf. Sein Leiter, Wolfgang Ruske, war nach der Grenzöffnung 1989 Polizist im thüringischen Nordhausen und erhielt den Auftrag, die Grenzanlagen vor Plünderungen zu schützen. Was ihm nur in Ansätzen gelang. »Jeder Hühnerzaun hier ist aus Maschendraht von der Grenze gebaut«, erzählt er. Doch in Schifflersgrund gelang es ihm, ein Stück der Grenzanlagen zu bewahren. Das dortige Grenzmuseum gibt es seit 1991 - es war das erste Museum, das sich der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung widmete. »Wir haben noch einen Originalzaun von einem Kilometer Länge. Andere Museen mussten die Grenzanlagen nachbauen«, erzählt Wolfgang Ruske. Das ist wohl auch einer der Gründe, dass der Grenzzaun in Schifflersgrund schon mehrmals Kulisse für Spielfilme gewesen ist. In Baracken, die rund um den erhalten gebliebenen Beobachtungsturm der DDR-Grenztruppen errichtet worden sind, befindet sich heute eine Ausstellung. Dort kann man zum Beispiel allerhand über das »Wanfrieder Abkommen« zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Besatzungsmacht vom 17. September 1945 erfahren, das einen Gebietstausch zwischen beiden Besatzungsmächten regelte. Die Grenzveränderung erfolgte deshalb, weil die Bahnstrecke Bebra-Göttingen auf einem kurzen Abschnitt durch die Sowjetische Besatzungszone verlief. Auch über den Auf- und Ausbau der innerdeutschen Grenze sowie von der gescheiterten Flucht Heinz-Josef Großes, einem 34-Jährigen, der von DDR-Grenzsoldaten im Schifflersgrund erschossen wurde, erzählt die Ausstellung, die mitunter - wohl aufgrund fehlender Geldmittel - etwas improvisiert wirkt.

Ganz im Gegensatz zu einem weiteren Grenzmuseum: der Mahn- und Gedenkstätte Point Alpha zwischen dem hessischen Rasdorf und dem thüringischen Geisa. Sowohl die Ausstellung in den Mannschaftsbaracken des ehemaligen US-Beobachtungsposten Alpha als auch die über die Geschichte der Grenze im »Haus auf der Grenze«, das in unmittelbarer Nähe liegt, sind museumspädagogisch auf dem neuesten Stand und scheinen finanziell aus dem Vollen geschöpft zu sein. So war an dem Konzept für die Ausstellung auch das »Haus der Geschichte« in Bonn beteiligt.

Doch auch in Point Alpha war der Anfang des Weges hin zu einer Gedenkstätte schwer. Nach dem Abzug der US-Amerikaner wurde der einstige NATO-Stützpunkt zunächst ein Asylbewerberheim. Dann gab es Pläne, den US-Beobachtungsposten abzureißen. Das Gelände sollte renaturiert werden. Dass es letztlich anders kam, ist Berthold Dücker zu verdanken. »Ich habe gegen diese Absichten eine Pressekampagne gestartet und eine Bürgerinitiative gegründet«, erzählt er während einer Führung über das Gelände. Dücker sprach auch mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Thüringen, Bernhard Vogel, der eine Finanzierung des Erhalts zusagte. Seit 1995 ist der Ort eine Gedenkstätte. Das »Haus auf der Grenze« wurde 2003 eröffnet.

Dass Dücker sich so stark für die Gedenkstätte einsetzte, hat auch Gründe in seiner Biografie. Er ist in der unmittelbaren Nähe aufgewachsen, in Geismar, heute ein Ortsteil von Geisa. »Ich bin mit den Geräuschen an der Grenze groß geworden. Fluchtgeschichten wurden auf dem Schulhof erzählt.« Er selbst unternahm mit 16 Jahren einen Fluchtversuch von Ost nach West - ausgerüstet mit einer Kneifzange, bekleidet mit einem Blaumann. Beide Gegenstände sind heute Bestandteil der Ausstellung im »Haus auf der Grenze«. Dücker wurde nach seiner Flucht in den Westen Journalist und ging nach der Grenzöffnung zurück in seine Heimat.

Ein Stück des Originalgrenzzauns ist auch bei der Gemeinde Ifta, 20 Kilometer westlich von Eisenach, erhalten geblieben. Dort wartet Ralf-Uwe Beck am sogenannten Baumkreuz auf die Radwanderer, dort, wo die Bundesstraße 7 auf die ehemalige deutsch-deutsche Demarkationslinie trifft. Beck war in der DDR Mitglied einer oppositionellen kirchlichen Umweltgruppe, heute ist er Sprecher der Evangelischen Landeskirche. Er erzählt, dass seit 1990 jedes Jahr im November Menschen zum Baumkreuz nach Ifta kommen, um hier Bäume zu pflanzen. »Wir wollen, dass, auch wenn der Zaun weg ist, die Alleen bleiben. Und wir wollen die Menschen zum Nachdenken anregen.« Das Projekt geht auf eine Idee von Joseph Beuys zurück, der in Kassel 7000 Eichen pflanzen wollte. Seine Schüler haben nach seinem Tod das Projekt mit dem Ziel fortgeführt, zwischen Kassel und Eisenach eine Allee zu pflanzen. Inzwischen wurde das Projekt aufgegeben, weil »es eine Bundesverordnung gibt, nach der keine Bäume an einer Bundesstraße gepflanzt werden dürfen«, erklärt Beck.

»Doch mit der Grenzöffnung sind längst nicht alle Probleme gelöst worden. Diese unbewältigten Probleme anzukreuzen - auch dafür steht das Baumkreuz«, sagt er. Seiner Meinung nach ist die Revolution von 1989 nicht vollendet, obwohl oder gerade weil er den Aufbruch als »unglaublich befreiendes Gefühl« erlebte, »endlich dieses Gefängnis verlassen zu können«. Doch die Ernüchterung kam schnell und die erste große Enttäuschung mit der Volkskammerwahl im März 1990, als die Allianz für Deutschland gewann. »Viel von der Revolution ist in den Supermärkten des Westens geblieben«, ist er überzeugt wie enttäuscht. Das sei nachvollziehbar, aber schade.

Die Reise endet in Erfurt. Dort besichtigen die Radler noch die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. Obwohl das Gebäude seit dem 19. Jahrhundert als Gefängnis benutzt worden ist, legt die im Dezember 2013 eröffnete Ausstellung ihren Schwerpunkt ausschließlich auf die Nutzung zu DDR-Zeiten, als es eine Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war. Darauf angesprochen, warum die Ausstellung ausschließlich jene Zeit beleuchtet, sagte Jochen Voit, der Leiter der Gedenkstätte, dass diese Schwerpunktsetzung vor allem darin begründet sei, dass die Andreasstraße im Herbst 1989 auch ein Ort der Befreiung war. Auf dem Gelände habe sich auch die Bezirksverwaltung des MfS befunden, sie sei die erste überhaupt gewesen, die von der Bevölkerung gestürmt wurde, erzählt er. Heute wird dieses Gebäude von der Polizei genutzt. Im nächsten Jahr, so erzählt Voit, soll es in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße eine Sonderausstellung über die Zeit im Nationalsozialismus geben, als das Gebäude als Untersuchungsgefängnis genutzt wurde.

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