nd-aktuell.de / 10.08.2006 / Kultur

Geniale Glanzlichter

Marx-Engels-Jahrbücher - ein internationaler Diskurs

Jens Grandt
Seit 2003 erscheint im Akademie-Verlag Berlin wieder ein Marx-Engels-Jahrbuch. Herausgegeben wird die Reihe von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam. Damit ist schon gesagt, dass sie im Vergleich zu den aus DDR-Zeiten bekannten roten Bänden nicht nur eine sehr viel breitere intellektuelle Basis hat, sondern die Edition das Erbe der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus fern jeder parteipolitischen Vereinnahmung erschließt. Die Jahrbücher füllen eine Lücke, die der von Delegitimation des historischen Marxismus geprägte Zeitgeist geschlagen hat. Nach der Wende im Osten Deutschlands erschienen kontinuierlich nur noch die »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung«, seit 1991 als »Neue Folge« ausgewiesen - eine verdienstvolle Publikation, die wesentlich vom Verein zur Förderung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) getragen wird. Von 1994 bis 2002 informierte die Amsterdamer Stiftung in den »MEGA-Studien« über die Restrukturierung des auf 114 Bände (122 Teilbände) bemessenen Editionsvorhabens. Diese mit den Stichworten Akademisierung und Historisierung nach streng philologischen Gesichtspunkten bedachte Phase ist abgeschlossen. Was nun fehlte, war ein akademisches Forum, in dem die Debatte um das Werk von Marx und Engels sowie ihres ideellen Umfeldes geführt werden konnte. Ein Periodikum, in dem die bisher unausgeschöpften Potenziale im Marxschen Denken freigelegt, aber auch fragwürdige oder fehlerhafte Schlüsse diskutiert werden. Den fulminanten Auftakt gab 2003 die erstmalige Veröffentlichung der Urmanuskripte zum umstrittenen Feuerbach-Kapitel der »Deutschen Ideologie«. War die Dokumentation der Entstehungsgeschichte dieser Texte als Vorausedition des MEGA-Bandes I/5 eine Ausnahme, so haben die folgenden Bände den Kompendiumscharakter, den man von Jahrbüchern gewohnt ist. Thomas Welskopp diskutierte die Frage, was die deutsche Sozialdemokratie zu Marx Zeiten unter dem Begriff »Klasse« verstand - nicht allein ein »Kapitalverhältnis«, das sich auf betrieblicher Ebene ergibt, wie der Autor des »Kapital« darlegt, sondern vornehmlich als ein über den Markt vermitteltes Abhängigkeitsverhältnis vom Großkapital. Diese Sicht »könnte für eine heute dringend gebotene Neuerwägung klassentheoretischer Gesichtspunkte von großer Bedeutung sein«, so Welskopp, da sich traditionelle Betriebsstrukturen über Outsourcing bis hin zur Scheinselbstständigkeit auflösen und der Markt sowohl Abnahmebedingungen als auch Preise diktiert. Der in Bielefeld lehrende Geschichtswissenschaftler Marco Iorio reflektiert Marxens Werk im Hinblick auf die zeitgenössische Philosophie, die vom politischen Liberalismus geprägt ist. Vor diesem Hintergrund untersuchte er die Einwände der Kommunitaristen gegen die Liberalität, also jener Theoretiker, die der individuellen Freiheit und Gleichheit skeptisch gegenüberstehen. Iorio zeigt, dass Kommunitarismus und Liberalismus keine Gegensätze, sondern Varianten desselben normativen Denkens sind. Wenn Marx den Liberalismus als eine spezifisch bürgerliche Moral kritisierte, die im Manchester-Kapitalismus endet, folgte er dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Da er aber seiner Konzeption den unzweifelhaften Sieg des Sozialismus zugrunde legte, glaubte er, auf moralische Normierungen verzichten zu können. Aus heutiger Sicht hätten die Fraktionsgenossen von Marx, die egalitären Liberalen, die besseren Karten als jene, die Konfliktlösungen quasi automatisch aus der Entwicklung ökonomischer Verhältnisse ableiten, schreibt Iorio. Einen Schwerpunkt bilden biografische Forschungen, etwa Altmeister Rolf Dlubeks Essay über den Marx-Besuch 1861 in Berlin oder Markus Bürgis detailreiche Recherche zu den Aufenthalten Friedrich Engels in der Schweiz. Dem Fetischismus, mit dem Marx die Verwandlung lebendiger Arbeit in eine Macht der Dinge (Geld und Ware) charakterisiert, versucht Falko Schmieder im Jahrbuch 2005 neu zu interpretieren. Er hält den Begriff »Projektion« für geeigneter, um den destruktiven Mechanismus moderner kapitalistischer Verhältnisse zu verstehen. Christian Schmidt äußert sich über »Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft«, Dick Howard vergleicht das Kantsche Konzept der Urteilskraft mit Marx, wobei zu fragen wäre, was das sein soll: das »Marxsche System«. Bereichert werden die Jahrbücher durch Nachträge zur Marx-Engels-Gesamtausgabe und mit Berichten, so über die 25. Jahrestagung der Assoziation for Documentary Editing in Chicago oder eine internationale Marx-Konferenz in Neapel. Mit Fug und Recht kann gesagt werden: Die Jahrbücher sind Glanzlichter historischer Forschung. Wer sich mit dem enzyklopädischen Erbe von Marx und Engels befassen will, kommt nicht um sie herum. Marx-Engels-Jahrbücher. 2004 und 2005. Akademie Verlag, Berlin, jeweils ca. 280 S., geb., pro Band 39,80 EUR.