Vagabundierende Gedanken

Bayreuth: Schlingensiefs »Parsifal« erregt noch immer die Gemüter

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Die Videos fluten immer noch nach eigenen Gesetzen. Üppig und auch zunehmend raffiniert. »Die Bilder werden bleiben«, ist denn auch - durchaus selbstbewusst und selbstbezogen - plötzlich mitten im chaotischen Bühnengerümpel zu lesen. Das stimmt auch, obwohl (oder gerade weil) sie so wandelbar und unfassbar sind. Ein erheblicher Teil des Bayreuther Publikums ließ sich bei der Wiederaufnahme von Christoph Schlingensiefs seit ihrer Premiere 2004 heftig umstrittenen »Parsifal«-Inszenierung aber darauf ein. Schlingensief imaginiert, verwoben mit Wagners Musik, das pulsend zuckende Leben. Ob nun das der Amöben oder der Robben. Und dessen Endlichkeit in der Verwesung seines Schlussbildhasen an der Ekelgrenze. Doch die überbordende Fantasie dieses Künstlers, der sich - frei nach Hans Sachs in den Meistersingern - seine eigenen Regeln setzt und ihnen dann folgt, sucht auch nach Möglichkeiten für die Menschen, damit fertig zu werden. Kundrys, Amfortas' und Parsifals, aber auch Klingsors Leiden an der menschlichen Natur, das in den Ritualen sich selbst zum Bewusstsein kommt und zu intensivem, auch körperlich berührenden Versuchen des Trostes findet - das gelingt jetzt deutlicher als in den vergangenen Jahren. Es wird gar zu einem Hauptvorzug seiner offensichtlich mit Ernst betriebenen Überarbeitung. Bei Schlingensief hat alles mit allem zu tun. Das macht ihn zwar sperrig, aber auch produktiv für eigene Denkanstöße. Wenn er in seine ganz eigene »Parsifal«-Welt jetzt arabische Schriftzeichen (die allerdings »nur« einen Hölderlintext verbergen) hineinwebt und einen Teil des Gral-Personals sowie seine neue hochintensive Kundry jetzt so ausstaffiert, dass die Bilder islamistischer Bedrohung aufgerufen werden, die sich seit ein paar Jahren in der mitteleuropäischen Selbstgewissheit abzulagern beginnen, dann weiß der Erfinder der »Kirche der Angst« schon, was er tut. Dann behauptet sein Bayreuth-Beitrag auf eine verblüffende und keineswegs nur illustrierende Weise eine Zeitgenossenschaft, die man sich für andere Inszenierungen, besonders aber für den »Ring« auch gewünscht hätte. Selbst, wenn sich nach wie vor längst nicht jedes Detail einer rationalen Deutung öffnet: Schlingensief ist auch in seinem »Parsifal« für vagabundierende Gedanken zuständig, die über die normierenden Leitplanken rationalen Denkens hinausschießen. Er ist aber auch Profi genug, seine Zwischenlandung in Bayreuth als eine eigene künstlerische Bereicherung zu nutzen und sich vom Pro und Contra antreiben zu lassen. Musikalisch geriet die Aufführung, die jetzt nicht mehr von Pierre Boulez sondern von Adam Fischer verantwortet wird, zwar nicht weihevoll betörend, doch zuverlässig. Die neue Kundry, Evelyn Herlitzius, beeindruckt mit ihrer Leidens-Intensität ebenso wie der Amfortas von Alexander Marco-Buhrmester und John Wegner als machtvoll agiler Klingsor, während Alfons Eberz zwar stimmlich an seine Grenzen kommt, aber dafür den Wandel Parsifals umso überzeugender zu vermitteln vermag. Robert Holl ist auch in diesem Jahr wieder ein ruhender Pol mit seinem sicher agierenden Gurnemanz. Irgendwie schienen sie alle ganz be...

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