Die Gans von Ipanema

Ruy Castros Buch »Bossa Nova« endlich auf Deutsch

  • Andreas Kötter
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Schauspielerei, Modellagentur, nacktes Posieren für den Playboy - um ihren kaum fassbaren Ruhm in Geld umzusetzen, hat das »Girl from Ipanema« alles versucht. Statt klingender Münze aber handelte sich Heloísa Pinheiro - so ihr bürgerlicher Name - sogar ein Gerichtsverfahren ein. Es ging um die Rechte am Titel »Helô«, nachdem sie ihre Boutique in Rio de Janeiro so getauft hatte: »Tom Jobim (der Komponist, d.R.) hatte zu mir gesagt, dass dieses Lied eine Gans wäre, die goldene Eier legt. Aber ich habe bisher keinen Pfennig dadurch verdient.« »Wäre sie heute entdeckt worden, hätten Werbung, Sponsoring und öffentliche Auftritte schnell eine Millionärin aus ihr gemacht«, sagt Ruy Castro: »Aber solche Marketingtechniken gab es im Brasilien jener Tage nicht.« Das Brasilien jener Tage und die Entstehung des neuen musikalischen Stils beschreibt der renommierte brasilianische Autor und Musikjournalist in seinem mitreißenden Buch »Bossa Nova. Eine Geschichte der brasilianischen Musik«, das jetzt endlich auch auf Deutsch erhältlich ist. Mit einer unglaublichen Vielfalt an Details und auf unterhaltsame und pointierte Weise wird die »Erfindung« des Bossa Nova hier nicht als geplanter Schöpfungsakt, sondern als das Ineinandergreifen individueller, kultureller und politischer Komponenten erzählt. Schon während der achtziger Jahre, als sich wirklich niemand mehr für diese Musik interessierte, hatte Ruy Costa so ziemlich jeden interviewt, der auch nur entfernt damit zu tun hatte. Fast wie ein Roman liest sich nun beispielsweise der seltsame Leidensweg des sonderbaren jungen Mannes namens João Gilberto aus Bahia. Nach einsamen Jahren mit seiner Gitarre erreichte er Rio mit einem völlig neuen und nur durch seine Musik mitteilbaren Lebensgefühl. Das von ihm gesungene »Chega de Saudade« - entstanden in der Zusammenarbeit mit Tom Jobim und Vinícius de Moraes - war der erste große Bossa-Nova-Erfolg 958. Die sonderbaren Harmoniefolgen, die zurückgenommene Gesangsstimme, die synkopierten Rhythmen - das alles wurde zum Ausdruck eines brasilianischen Selbstbewusstseins, dass sich im Bau der Hauptstadt Brasilia nach den Entwürfen Oscar Niemeyers und der ehrgeizigen Regierungszeit von Präsident Kubitschek äußerte. Ebenfalls 1958 gewann Brasilien in Schweden erstmals die Fußballweltmeisterschaft, im Jahr darauf eroberte Marcel Camus Film: »Orfeu Negro« die europäischen Festivals. »Fünfzig Jahre Fortschritt in Fünf!« war die ausgegebene Losung, alles schien machbar. Kurz darauf verführte der Bossa Nova vor allem mit seiner Adaption durch Jazzgrößen wie Stan Getz und das bahnbrechende Carnegie-Hall-Konzert von 1962 die Welt. Es sind die vielen Anekdoten über Intrigen, Krisen, Sex und Alkohol, die das Buch lebendig machen und das Bild einer jungen, privilegierten brasilianischen Generation entstehen lassen, die in den Jahren vor dem Abgleiten Brasiliens in eine Militärdiktatur hauptsächlich mit sich, der Sonne, dem Strand, dem Meer und der Liebe beschäftigt war. So wie die 18-jährige »Helô«. Auf dem Weg zur Schule, zum Schneider, zum Zahnarzt oder zum Zigarettenkaufen für ihre Mutter verdrehte sie 1963 den Männern die Köpfe. Aus der Veloso Bar in Rio de Janeiro heraus bestaunten damals auch der 35-jährige Tom Jobim und der 50-jährige Lyriker Vinícius de Moraes das Mädchen, das nicht ahnte, wie sie eines der meistgespielten Lieder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts inspirierte. Davon erfuhr sie erst, als zwei Journalisten des Magazins Fatos & Fotos sie unbedingt fotografieren wollten - was ihr Vaters, ein alter Armee-General, verhinderte. Das Phänomen Bossa Nova war 1965 schon am Ausklingen, als de Moraes 1965 die geheime Identität Frau Pinheiros bekannt machte und die »Mischung aus Blume und Sirene, Licht und Grazie« als Inspiration des Hits bezeichnete. Wenig später eroberten die Beatles den US-amerikanischen Markt, in Brasilien kam es zum Militärputsch, und »Helô« Pinheiro heiratete einen Metallarbeiter, den bald das Unglück der Arbeitslosigkeit traf. Die deutsche Übersetzung des Werkes von Ruy Castro - dessen aktuelles Buch über Carmen Miranda in Brasilien auf den Bestsellerlisten steht - hat 16 Jahre auf sich warten lassen. So hat das Buch inzwischen selbst seine Geschichte und kann getrost unter die Klassiker der modernen Pop-Musik-Literatur einsortiert werden. 1990 war es Teil der in Brasilien einsetzenden Bossa-Nova-Renaissance und ermöglichte einer neuen Generation den Zugang zu dieser in den Jahren der Diktatur fast vergessenen Epoche. Junge Künstler nahmen gemeinsam mit den Veteranen dieser Musik Platten auf, wie etwa Leila Pinheiro mit Robert Menescal. Und auch neue Soloplatten der alten Stars erschienen mit großem Erfolg. Inzwischen ist von dieser Euphorie wenig geblieben, viele Künstler kehren Brasilien enttäuscht den Rücken, wie etwa die amtierende Bossa-Nova-Prinzessin Bebel Gilberto. Und so stellt sich die Frage, was geblieben ist, von jenen Tagen. Zumindest die inzwischen über 60-jährige »Helô« kann sich freuen: Ein erfolgreiches Modell macht in Brasilien inzwischen von sich reden und hat es sogar schon zu Gastauftritten in einigen Telenovelas geschafft: Ticiane P...

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