Radikal, aber nicht reißerisch

»Die Ausstellung enthält Darstellungen von Gewalt und Sexualität« - Sergio Zevallos in Stuttgart

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Sein Körper ist Waffe. Keine, die tötet und verstümmelt, wohl aber eine, die betroffen macht, die das harte Erdreich erstarrter Konventionen aufwühlt und deren explosiver Widerschein ein ganzes gesellschaftliches Zwangs- und Lügensystem zur Kenntlichkeit entstellt. Mit dem gebürtigen Peruaner Sergio Zevallos bringt die neue Schau des Württembergischen Kunstvereins (WKV) einen Pionier der lateinamerikanischen Körperkunst in Erinnerung.

»Die Ausstellung enthält Darstellungen von Gewalt und Sexualität« - der (juristisch wohl erforderliche) Warnhinweis am Eingang trifft zu, und auch wieder nicht. So radikal Zevallos’ Bilder sein mögen, reißerisch sind sie nicht. Trotz der Zeichenteppiche aus erigierten Gliedern und penetrierten Leibesöffnungen, trotz der Fotografien von menstruierenden Heiligen oder masturbierenden Transvestiten. Zu sehen sind Arbeiten auf Papier, Performancedokumentationen sowie eine installativ erweiterte Dia-Show, mehrheitlich aus den 80er Jahren, als Zevallos der Künstlergruppe Chaclacayo angehörte. In Europas Kunstzentren war man da schon abgehärtet durch die offensiven Entblößungen der Wiener Aktionisten in den 60ern oder die provokanten Interventionen feministischer Kunst, doch bezogen auf den Kontext seiner Entstehung leistet der Peruaner ähnlich Innovatives und vielleicht noch Mutigeres als die europäischen Kollegen.

Denn die Achtziger waren ein unruhiges, auch unsicheres Jahrzehnt im Andenstaat. Nach dem Ende der Militärdiktatur saß die neue demokratische Regierung noch nicht fest im Sattel. Alte Seilschaften aus Generälen, Klerus und Großgrundbesitz verteidigten im Hintergrund ihre Macht. Unter dem Vorwand, die maoistische Guerilla des Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) zu bekämpfen, kam es zu brutalen staatlichen Vergeltungsmaßnahmen gegen die indigene Landbevölkerung.

Durch seine Homosexualität, seine Kunstkonzepte und politischen Ansichten zum Außenseiter gestempelt, gründete Zevallos 1982 mit seinem Freund Raul Avellaneda und seinem deutschstämmigen Professor Helmut J. Psotta die Grupo Chaclacayo. Aufgrund diverser Repressalien floh das Kollektiv später nach Deutschland und ging hier 1994 im Streit auseinander. Deswegen scheiterte, wie WKV-Mitdirektorin Iris Dressler erklärte, der ursprüngliche Plan, eine Retrospektive der gesamten Gruppe zu präsentieren, am Widerstand Psottas (der mittlerweile verstorben ist). So habe man sich für Arbeiten allein von Zevallos entschieden. Diese entstanden zwar während der gemeinsamen Phase des Trios, seien aber im urheberrechtlichen Sinne als Solo-Projekte zu bewerten.

Und zumindest aus der Perspektive des Betrachters ist das kein Nachteil. Ob Collage, Fotoinszenierung oder Zeichnung - in überbordender Persiflier- und Verwandlungslust münzt Zevallos Einflüsse aus christlicher Tradition, indigener Volkskunst und europäischer Moderne zu Bildwelten um, in denen Perus katholisch dominierte, schwulenfeindliche Kultur den Zerrspiegel ihrer eigenen Bigotterie erblickt. Vom hermaphroditischen Indianerkönig bis zur männlichen Braut spielt dieses Körpertheater ganz im Zeichen des geschlechtlichen Rollentauschs. Doch auch die Nonne mit Nosferatu-Händen spricht Bände. Noch ein halbes Jahrtausend, nachdem Spaniens Eroberer den letzten Inka auf den Scheiterhaufen schickten, ist das Land in den Klauen der Kleriker.

Am Beispiel der Heiligen Rosa von Lima, die, obschon Mestizin, in der offiziellen Ikonografie zur Weißen wurde, enthüllt Zevallos die historische Allianz von Kirche und Kolonialmacht. Vor allem aber offenbart er Sexualität als das von der Staatsreligion verdrängte und verschwiegene Andere. Bald verschmelzen Sadomaso-Praktik und Kreuzigung, bald treten Skelettfiguren wie aus dem Heiligenreliquiar an die Bahren frisch Verstorbener: überlieferte Rituale einer Macht, die sich selbst und ihre Gewalt religiös verschleiert, der Zevallos aber nicht auf den Leim der süßlich-kitschigen Andachtsbildchen geht.

In all ihrem blasphemischen Aufbegehren, ihrer Obsession für Ausflüsse und Abfälle findet diese Kunst über die Niederungen zum erhebenden Gefühl der Schönheit zurück. Einer Schönheit, die das europäische Erbe abgeschüttelt hat. Mit den Leguangottheiten, die aus dem dichten Bunt halb fleischlicher, halb pflanzlicher Ornamentstrukturen herauslugen, blitzt etwas auf, was tief aus dem Regenwald zu kommen scheint. Vielleicht doch das Fantastische alter Mythen, die, wie im Magischen Realismus der Literatur Lateinamerikas, als Gegenspieler einer hartherzigen Zeit beschworen werden? Jedenfalls eine sehenswerte Ausstellung.

Bis 11. Januar, Schlossplatz 2, Di-So 11-18, Mi 11-20 Uhr.

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