Schmerzvoll stirbt das Alte

Elf chinesische Gegenwarts-Erzählungen

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Einfach zu verkraften sind diese Geschichten der jüngeren und jüngsten Schriftsteller Chinas nicht. Der Titel der letzten Erzählung «Ich hab Schmerzen» kann für alle gelten. Schmerzvoll erlebt und durchlebt eine junge Generation gesellschaftliche Umbrüche der letzten dreißig, vierzig Jahre und damit die Relativierung von alten Vorstellungen und Normierungen. Der Autor Chen Xiwo, in den sechziger Jahren geboren und der älteste Schriftsteller hier, beschreibt die Psyche bzw. kranke Psyche einer jungen, aus allen gesellschaftlichen Normen fallenden Frau, die als Kind zwanghaften Erziehungsmaßnahmen, vor allem durch die Mutter, ausgesetzt gewesen ist. Diese Erzählung ist in dem Band die einzige, die das China der Gegenwart (und Zukunft) einmal als eine Gesellschaft mit Alarmanlagen und «Vorhängeschlössern» beschreibt: «... nationales Seelenheil durch Sport, Grundstücksspekulation, Rationalisierung der Regierungseinrichtungen, Klavier lernen, Englisch sprechen, Peking Oper, absolute Intimsphäre, neue Ökonomie im Internet, ein fiktives Leben ... Eine Gesellschaft der Zauberer. Ich jedoch bin eine Hure. Ich habe nichts ...» Eine ganz ähnliche Bilanz findet sich auch in anderen Erzählungen, nur umschreiben die Autoren zumeist Jugend- und Frauenfeindlichkeit erzählerisch, oder sie weichen in eine nicht genau festlegbare Vergangenheit aus ...

So bitter die Leseerfahrungen sind, man muss schon alle Erzählungen lesen, um in diesen merkwürdigen, fremden Kosmos namens China einzutauchen, in dem die Adoleszenz - vor allem die sehr junger Mädchen - und Bordelle, Sexualität und Körperlichkeit überhaupt eine so quälende Rolle spielen. Nachvollziehen lässt sich Vieles nicht, nur wie durch einen schmalen Türspalt betrachten. Denn, machen wir uns nichts vor, diese elf Erzählungen sind nur ein kleiner Ausschnitt von Wirklichkeit und der sie spiegelnden Literatur.

Es sind zwei Themen, die dominieren. Neben Sexualität und vermarkteter Sexualität, wie in «Nackter Sommer» von Wu Xuan, kehrt ständig, fast archetypisch, die Schreckensgestalt der strengen, bösen Mutter oder Lehrerin wieder, die das Kind (meistens ist es ja nur eins) zu einem funktionierenden Teil der Gesellschaft machen wollte und vor Zwangsmaßnahmen bis hin zu Schlägen nicht zurückschreckte. «Die zerbrochene Scheibe» von Li Hao beschreibt Hilflosigkeit und das Aufbäumen dagegen.

Einige Erzählungen, und es sind die reizvolleren, bringen Bilder einer untergehenden und einer weit zurückliegenden Vergangenheit ins Spiel. In «Schmiede! Schmiede das Eisen» gehen mit dem Untergang der alten Schmiedegasse Hass und Blutrache einher. In der Titelerzählung «Pflaumen regenfeucht» von Xu Zechen ersteht und stirbt noch einmal die frühere «Blumenstraße» mit ihren blumengleichen Mädchen, wie wir sie aus alten Filmen kennen und verklärt bewahren. Der Gegensatz zu neuer Prostitution täuscht aber nicht über altes Elend hinweg. Nur ist die Liebe hier wie ein zerbrochenes Holzkästchen lackiert. In «Die Frische genießen im Ming Xiaoling Mausoleum» verbindet Wie Wei, eine der wenigen Autorinnen, die Erinnerung an den ersten Herrscher der Ming-Dynastie, den drei Jugendliche im Mausoleum entdecken, unmittelbar mit dem Frau-Werden eines der Mädchen an diesem überhitzten Tag. Das Mädchen ist von allem überfordert.

Das Buch erscheint verdienstvollerweise als zweiter Band einer Reihe chinesischer Gegenwartsliteratur. Zu bedauern ist, dass die Vorworte der beiden chinesischen Literatur-Experten nur oberflächlich, mitunter fehlerhaft informieren. Es interessiert wenig, welche Auszeichnungen und Mitgliedschaften die Autoren in China haben oder wie viele chinesische Schriftzeichen sie bisher veröffentlichten, zumal ihre Namen kaum zu merken sind. Stattdessen hätten die Herausgeber über das Verhältnis zwischen offizieller und dissidentischer Literatur (eines Liao Yiwu oder des in China lebenden Nobelpreisträgers Mo Yan), wenn auch kurz und nicht unbedingt wertend, einige Informationen geben sollen.

«Pflaumen regenfeucht». Erzählungen über die Jugend. Herausgegeben von Bing Feng. Aus dem Englischen von Harald Kollegger. Band 2 der Reihe «Chinesische Gegenwartsliteratur. Löcker Verlag. 319 S., br., 22 €.

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