Kein Mobbing im Zuckerwatteland

Das junge Ensemble im Friedrichstadt-Palast sieht seine Welt »Ganz schön anders«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast 80 000 junge Zuschauer hatte »Ganz schön anders« seit der Uraufführung 2012. Das dürfte auch die neue Spielserie dieser Show des jungen Ensembles mühelos erreichen. Hauptsächlich im Bühnenbild, das nun ebenfalls aus der Hand von Kostümdesigner Stephan Bolz stammt, wurde das Programm überarbeitet. Und auch die Zahl der im Jahr 2012 verzeichneten Choreografen hat sich unter der Regie von Corinna Druve auf vier reduziert. Leider ist Stefanie Froers Buch noch so aktuell wie damals: Mobbing unter Schülern hat seither eher zu- als abgenommen. Daher ist es umso wichtiger, dieses traurige Kapitel zu thematisieren. Freilich geschieht das in Europas größtem Revuetempel nicht auf abschreckend bierernste Weise, wiewohl mit pädagogischem Anspruch. Denn was dort Helene passiert, kann so überall und täglich passieren.

Von den Magic Mosquitos, einer radikalen Mädchengang, wird sie verbal als graue Maus verspottet, als Häuflein Asche singend abqualifiziert. Es macht keinen Spaß, allein zu sein, klagt im Solosong Helene und zieht sich wieder in ihre heimische Sphäre zurück. Inmitten betongrauer Wände, die ein Gesicht haben und sich witzige Wortgefechte liefern, und von überbeschäftigten Eltern zu viel allein gelassen, schreibt sie weiter am Buch um Lolly Lakritze und deren Abenteuer im Zuckerwatteland. Und als Lolly leibhaftig ins Zimmer tritt, sie Honigkuchen nennt und unter der Flut ihres Rotschopfs quicklebendig umherspringt, da schöpft auch Helene frischen Lebensmut.

Was bislang nur ihre Fantasie belebt, quillt nun auf das riesige Halbrund der Bühne als echtes Zuckerwatteland. Eine Armada von Marshmellows in Gelb und Orange marschiert auf, Schnecken aus Lakritze tanzen unter einem Trapezakt, leckere Sahneschnittchen agieren mit Pariser Chic, dass selbst die Videoblumen selig mitwippen. Als Clou präsentiert Manager Lenny Lakritze Marzipanja, sein in hohe Koloraturen aufziehendes Marzipanschwein mit dem Vier-Oktaven-Stimmumfang.

Auch real könnte es für Helene besser werden, denn die gerade zugezogenen Geschwister Anouk und Eli interessieren sich für sie. Auch wenn die Mosquitos dem Trio hinterherrufen »Verpisst euch - keiner vermisst euch«: Helene schwebt in ihrem Glückssong auf »Wolken aus Zuckerwatte«. Damit es nicht allzu süß zugeht, erfindet sie rasch salzige Figuren. Da haben Curry Wurst und seine Fritten ihren Auftritt, begleitet von Big Jack und den runden Hamburgern: Austauschschüler, so stellen sie sich vor. Ihr gemeinsames scharfes Bild macht das Leben würzig und deftig und wandert musikalisch von Rap zu Country. Konfetti rieselt über die bühnenbreite Videoleinwand, damit für die Abendshow nicht zu viel gesäubert werden muss und vor der Pause trotzdem Partystimmung aufkommt.

Nach der Pause rächt sich das lebensgroße Helene-Porträt, das alle Besucher scheußlich finden. Während das Mädchen schläft, schreibt es in ihr Buch die Fieslinge Gift und Galle hinein, die wider die Zuckermania antreten, das Zuckerwatteland tyrannisieren, die Blumen welken lassen. Laserkaskaden und Blitzgewitter fahren hernieder, bis Helene hinter den Trick ihres Porträts kommt und die Story umdichtet.

Noch stellen sich in der realen Welt die Magic Mosquitos als ignorante Cheerleader quer, doch auch sie überzeugt am Ende Helenes Fantasie, dass unsere Welt eben viele Farben hat und »Ganz schön anders« ist, als mancher sich das denkt. Schon träumen Curry Wurst und die Hamburger von einer gemeinsamen fetten Tournee, würde Marzipanja dann gern schweinische Lieder singen.

Erst einmal bejubeln Saal und Bühne, der eine mit knapp 2000 Besuchern, die andere mit gut 100 Mitwirkenden gefüllt, Helenes Mut, etwas zu ändern, und tragen die Botschaft vielleicht auch in den Alltag. Dann hätte aller Aufwand sich gelohnt: der knallbunte in virtueller Dekoration und konkretem Kostüm, der an eingängigen Melodien und angemessen komplizierten Choreografien. Und natürlich der des engagierten jungen Ensembles, mit Henriette Schwabe als spielfreudiger Lolly, Mariam Akopjans wohltönender Helene, dem Schweinchen der Lea Gordin, David Hermlins lässigem Curry Wurst.

Bis 30.1., Friedrichstadt-Palast, Friedrichstr. 107, Tickets: (030) 23 26 23 26, www.palast-berlin.eu

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