Wenn eine Behinderung als Fluch gilt

Menschen mit Beeinträchtigungen haben in Uganda einen schweren Stand

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 6 Min.
In den ländlichen Gebieten in Uganda mangelt es sowohl an Rehabilitationsdiensten als auch an Bildungsangeboten für Behinderte. Die Gesundheitsorganisation OURS versucht, Abhilfe zu leisten.

Noch ist es kalt auf dem Parkplatz der Gesundheitsorganisation OURS in Mbarara, einer Kleinstadt im Südwesten von Uganda. Frühmorgens steigt ein Ärzteteam in einen Geländewagen. Ein Augenarzt, ein Kinderarzt und eine Sozialarbeiterin nehmen an einem sogenannten Outreach-Tag teil, einem Tag, an dem entfernte Gegenden angesteuert werden. Auch der Neurotherapeut Ambrose Ganshanga ist dabei. »Heute fahren wir in ein Dorf, um betroffene Kinder zu identifizieren«, sagt er. »Wir werden Diagnosen stellen und mit den Eltern entscheiden, was getan werden muss. In Uganda leben die meisten behinderten Kinder in Gemeinden, die keinen Zugang zu Rehabilitationsdiensten haben. Deshalb müssen wir selbst dorthin fahren. Von sich aus würden die Eltern unsere Dienste nicht in Anspruch nehmen.«

Die zweistündige Fahrt in das entlegene Dorf Kamuenge führt durch staubige Buschlandschaft. Unterwegs spricht Ambrose Ganshange über die Situation von Kindern mit Beeinträchtigung in den ländlichen Gebieten Ugandas: »Sie werden häufig in ihren Hütten versteckt. Es ist nicht leicht, betroffene Kinder zu finden. Wir können sie oft erst untersuchen, wenn sie schon unter Sekundärbehinderungen leiden, weil sie nie eine Rehabilitationsmaßnahme bekommen haben.«

Die Arbeit von OURS wird von dem deutschen Entwicklungsdienst EIRENE unterstützt. Der Projektreferent Martin Lohnecke hält diese Pionierleistung für besonders wichtig: »Die Arbeit ist noch in den Anfängen und sehr mühsam. Neben der praktischen, medizinischen Versorgung erzielt OURS wichtige Aufklärungserfolge. Langsam wird die Bevölkerung für die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen sensibilisiert.« In den ländlichen Gebieten gibt es nur wenige Bildungsangebote. Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, dass auch ein Mensch mit Beeinträchtigung ein Recht auf ein würdevolles Leben hat. Martin Lohnecke erklärt: »Eine angeborene körperliche Beeinträchtigung gilt als Fluch oder Verwünschung. Nicht selten verstecken Familien ihre Kinder mit Behinderungen oder sperren sie sogar weg. In ganz schlimmen Fällen werden sie in ein kleines Lehmhaus gesteckt, ohne Tageslicht, ohne körperliche Pflege, ohne Förderung und ohne elterliche Fürsorge.«

In Kamuenge haben sich rund hundert Menschen vor dem baufälligen Schulgebäude des Dorfes versammelt. Viele sind stundenlang zu Fuß gegangen. Mütter tragen Kleinkinder in Bündeln auf dem Rücken, Jugendliche stützen sich auf rostige Krücken. Nach einigen Begrüßungsreden und einem Gebet werden die Patienten verschiedenen Gruppen zugeordnet: Blinde, Körperbehinderte, kranke Babys. Der zuständige Koordinator vor Ort ist ein hagerer Mann mit viel Enthusiasmus. Asunto Sawe ist während der vergangenen Wochen von Hütte zu Hütte gegangen, um mit Dutzenden Familien zu sprechen, immer auf der Suche nach Kindern, die vor den Nachbarn versteckt werden: »Wenn ein behindertes Kind geboren wird, sagen die Leute, irgendetwas stimme nicht mit der Mutter. Sie habe etwas falsch gemacht. Manchmal werden solche Frauen sogar ausgestoßen, aus ihren Hütten vertrieben. Ihnen wird vorgeworfen, sie seien schuld an dem Fluch, der angeblich auf der Familie laste.«

Wenige Meter entfernt steht ein Mädchen in einer lila Schuluniform. Asunto Sawe winkt sie herbei. Sie blickt schüchtern auf den Boden, kommt dann aber doch humpelnd näher. Die zwölfjährige Joann wurde mit einem Klumpfuß geboren. Wäre sie nicht schon als Kind behandelt worden, hätte sie womöglich nie laufen gelernt. Vor fünf Jahren hat die Organisation OURS sie an ein Krankenhaus in der Hauptstadt Kampala vermittelt. Dort wurde der notwendige operative Eingriff routinemäßig vorgenommen. Seither hat sich Joanns Leben völlig verändert: »Früher waren ihre Beine verbogen«, erinnert sich Asunto Sawe. »Aber jetzt kann sie sich gut bewegen. Sie kann sogar Wasser holen. Die Leute sehen das und freuen sich. Das ist sehr ermutigend, denn alle erkennen, dass eine deutliche Verbesserung möglich ist.«

Joanns Familie wohnt in einer kleinen Hütte in der Nähe. Asunto Sawe möchte ihre Mutter begrüßen. Das Mädchen freut sich und läuft in schnellen Schritten voraus durch den Staub eines huckeligen Sandpfads. »Jetzt kann sie sich schnell bewegen«, sagt Asunto Sawe zufrieden. »Sie kann sogar rennen. Seit ihrer Rehabilitation ist sie viel fröhlicher.« Die runde Hütte hat einen einzigen, dunklen Raum. Auf dem nackten Fußboden liegen zahlreiche verstaubte Wolldecken, die Schlaflager der Familie. Joann hat sieben Geschwister.

Ihre Mutter freut sich über den Besuch. Mit Asunto Sawe unterhält sie sich in ihrer Sprache Ruyankore. Er übersetzt: »Sie sagt, die Leute hätten sie zwar nie aufgefordert, ihre Tochter zu töten, aber sie haben gesagt, es sei falsch von ihr, ein solches Kind in das Dorf zu bringen. Jahrelang wurde ihre Familie schlecht behandelt und ausgeschlossen, weil sie ein behindertes Kind hat. Das gilt als Schande. Aber seit die Leute sehen, dass es Joann besser geht, wird sie akzeptiert.«

Plötzlich steht Asunto Sawe auf. Er will unbedingt die Hütte einer Nachbarsfamilie besuchen, weil Joanns Mutter gesagt hat, dass dort ein Kind in einem Hinterzimmer versteckt wird. Die Hütte liegt nur wenige Schritte entfernt. Eine kleine Frau begrüßt den Gast. Auch ihr Mann ist zu Hause. Er liegt auf zwei Brettern, eingehüllt in ein schmutziges Betttuch. Sein Körper ist dürr. Schweiß tropft von seiner Stirn. Asunto Sawe spricht eine Weile mit ihm. Dann erklärt er: »Der Mann ist krank, wahrscheinlich Malaria. Auch er hat eine Tochter mit Klumpfuß, das Mädchen dort drüben. Man kann ihr Bein sehen.«

Die Hütte hat mehrere Zimmer ohne Türen. In einem Raum liegt ein etwa vierjähriges Mädchen auf dem blanken Erdboden. Sie trägt ein T-Shirt, das ihr viel zu groß ist. Sonst nichts. Das Kind bewegt sich nicht und gibt auch keinen Laut von sich. Asunto Sawe glaubt nicht, dass der Mann seine Tochter behandeln lassen will: »Das Mädchen sollte zu OURS gebracht werden, um es zu untersuchen. Aber dafür braucht es noch viel Überzeugungsarbeit, denn abgesehen von den finanziellen Problemen hat die Familie auch noch viele Zweifel.« Der Vater sagt, er habe seine Tochter schon mal in ein Krankenhaus gebracht, aber er könne sich die Operation nicht leisten. In solchen Notfällen kann die Organisation OURS für alle Kosten des Kindes aufkommen. Solche Ausgaben werden von dem Hilfswerk Christoffel-Blindenmission finanziert. Aber die erwachsene Begleitperson muss selbst für ihre Verpflegung sorgen. Der Vater ist sich nicht sicher, ob es sich lohnt, dieses Geld aufzubringen. Er glaubt, der Zustand seiner Tochter sei Gottes Wille. »Gott weiß, was er tut«, sagt er. Der politische Vertreter der Christoffel-Blindenmission, Jan Thilo Klimisch, meint, das langfristige Ziel der Arbeit in Uganda müsse eine gesellschaftliche Inklusion der Menschen mit Beeinträchtigung sein: »Wir wollen den Betroffenen mehr Überlebensmöglichkeiten eröffnen. Dabei muss die gesamte Gemeinde einbezogen werden, um das Gemeindeleben inklusiver zu gestalten. Oftmals geht es auch darum, den Menschen mit Behinderungen eine Stimme zu geben, ihnen Gehör zu verschaffen, damit sie ihre eigenen Interessen vertreten können.«

In den ländlichen Gebieten Ugandas ist die Zahl der Kinder mit Beeinträchtigungen viel größer als in den Städten. Doktor Ambrose Ganshanga sieht das als eine Konsequenz der Armut: »Auch wenn Kinder eine Behinderung haben, die gar nicht so schwerwiegend ist, verläuft die Entwicklung doch oft schlecht. Die Eltern sind arm und können sich keine Rehabilitation leisten. So bleibt das Kind zu Hause, kommt nie nach draußen und verpasst verschiedene Entwicklungsschritte. Mit der Zeit wird die Behinderung immer schlimmer.« Dem Gesetz nach haben alle Menschen in Uganda ein Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung, aber das nächste staatliche Krankenhaus ist oft weit entfernt. In dieser Situation bietet die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie OURS Kindern mit Beeinträchtigungen oft die einzige Chance auf eine angemessene Behandlung.

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