nd-aktuell.de / 06.12.2014 / Expedition Europa / Seite 2

Samit

Martin Leidenfrost über seine Begegnung mit dem vielleicht vollkommensten Europäer

Am Ende werde ich den vielleicht vollkommensten Europäer kennenlernen, am Anfang aber habe ich Angst. Ich streife nämlich durch Marseille-Nord, durch Wohnblockgebirge, von denen immer dann berichtet wird, wenn die regierenden Drogen-Gangs wieder einen »Kalaschnikow-Ball« ausgerichtet haben.

Der Staat wirkt abwesend, in der fahrenden Métro rauchen Jugendliche Joints, unter den unfreiwillig Mitrauchenden sind nur die voll verschleierten mit Filter ausgestattet. Wie in keiner anderen Großstadt nehmen die Menschen einander mit wacher Aufmerksamkeit wahr. Im Bus Nr. 38, der etliche Problem-Cités durchkreuzt, rauscht die Ethnogenese des ganzen Mittelmeerraums an mir vorbei. Marseiller italienischer oder spanischer Herkunft, viele Algerier, Tunesier, Juden. Dazu Armenier mit auffälligen Nationalsymbolen und ostafrikanische Komorerinnen, die nach Süßem riechen, wie nach türkischem Honig, nach Zimt. Sie müssen das Aroma in ihrer islamischen Kleidung haben, in den Einkaufstüten der Komorerinnen kann ich keine Süßigkeiten ausmachen.

Eigentlich will ich erfahren, wie sich eigentlich die Nachfahren der maghrebinischen Einwanderer mit den jüngsten Einwanderern verstehen, den von der französischen Öffentlichkeit so einhellig abgelehnten Roma vorwiegend rumänischer Herkunft. Der Taxifahrer setzt mich bei einer Abfahrt der Küstenautobahn ab, wegen der verkehrsgünstigen Lage führt die Siedlung »La Castellane« im Umsatz mit Drogen. 50 Dealer schieben 3x8-Stunden-Schichten, Halbwüchsige stehen Schmiere und werden mit Trainingsanzügen geschmiert. Das versprochene Roma-Camp kann ich nicht finden. Da wandert an der Leitplanke, auf ein Alurohr gestützt, ein alter Berber herbei. Der Zauberfußballer Zinedine Zidane ist hier aufgewachsen, der Alte kennt die Familie. »Sein Vater hat von Zinedine eine Villa gekriegt, seitdem lassen die sich kaum noch blicken.« Am Rande eines Kreisverkehrs weist der Berber auf einen uneinsehbaren Graben: »Da leben sie. Ich kann nichts Gutes und nichts Schlechtes über sie sagen. Alles Gute!«

Ich finde ein Camp aus teils fahruntüchtigen Wohnwagen, ein mit Schrott beladener Pritschenwagen fährt ein. Mein Besuch ist kurz. Der Vorsteher erklärt mir auf Rumänisch, dass seine Leute »nicht mit Polizei und Presse« reden, das habe ihnen ihr Kontaktmann im Rathaus geraten. Eine Roma-Familie aus Serbien will aber reden. Besonders Samit, schmal und sehnig, eng anliegende Lederjacke. Ich erfahre, dass neulich eine Delegation da war, »ein dicker Belgier, so ein Bürgermeister von der EU, zusammen mit dem Bürgermeister vom Bezirk«. Ein paar Tage später bekam das Camp Strom. Samit, 21, will seine Autobiografie schreiben. Wir gehen auf einen Kaffee.

Wir wandern lange bergauf, kein Lokal nirgends. Nur die Halbwüchsigen vor den Wohnblöcken fragen servicebewusst: »Suchen Sie etwas?« Samit lässt sich auf keine Nationalität festklopfen: Geburt in Deutschland, die Familie serbisch-muslimisch aus dem Sandschak und Kosovo. Kindheit in Italien, Bruder vom Auto überfahren, »seitdem habe ich diesen Sprachfehler.« Eltern getrennt, Waisenhaus in Antwerpen, belgische Kochlehre. Die erste Freundin eine Bulgarin aus Deutschland, die verlorene Ehefrau Albanerin. Jede Tragödie brachte ihm eine weitere Sprache ein.

Alle paar Minuten ruft aus dem Camp sein zehnsprachiger Onkel an. Sie telefonieren auf Romanes, die Sprache hätte Samit gar nicht mitgezählt. Seine Oma, 56, schickt uns zu Carrefour einkaufen. Bei Fleisch und Würfelzucker ist ihr die Marke egal, beim Kaffee besteht sie auf dem mit dem »italienischen Geschmack«.

Das grausamste Kapitel in Samits Buch wird das albanische. Der Schwiegervater lehnte ihn als Waise ab, suchte der Tochter die Liebe über einen Hodscha-Hexenmeister auszutreiben, schlug ihr Kind im Mutterleib tot. Die Liebenden flohen mehrmals, schließlich fügte sich die Tochter. Samit zeigt mir auf Facebook ein Foto, seine Exfrau mit dem Neuen aus vermögender Familie, daneben der grinsende Vater. »Sulhada Prettygirl«, wie sich die Schöne online nennt, trägt auf dem Foto ein rosa Zuckerpuppenkleid. »Ist das ihr Hochzeitskleid?«, frage ich. Samit weiß es nicht. »Ich glaube nicht, dass sie mich noch liebt.« Und damit hat er noch nicht alles erzählt. Er muss sich nur noch für eine Sprache entscheiden. Deutsch, Holländisch, Serbisch, Romanes, Englisch? Verleger, rührt Euch!