nd-aktuell.de / 10.12.2014 / Kultur / Seite 14

Eigenverantwortlich ins Verderben

Von der schönen neuen Welt des Digitalen: Christoph Kucklicks »Die granulare Gesellschaft«

Christian Baron
Die digitale Revolution hält viele Segnungen für uns bereit, birgt aber auch manche Gefahren. Zum Beispiel wird unsere Gesellschaft auf völlig neue Weise vermessen – und wir selbst spielen eifrig mit; laden uns Gesundheits-Apps aufs Smartphone, messen Herzfrequenz und Kalorienverbrauch und geben dabei mehr von uns preis, als uns guttut. In seinem Buch »Die granulare Gesellschaft« beschreibt und kritisiert der Journalist Christoph Kucklick mit spitzer Feder den drohenden Verlust demokratischer Werte im digitalen Zeitalter.

Mit ratloser Miene steht er vor dem bunt blinkenden Schild mit der Aufschrift »Versicherungsgesellschaft ›Fröhliche Witwe‹«. Homer Simpson ist schwer herzkrank. Er kann sich aber die lebenswichtige Operation nicht leisten. Da hilft nur noch der Gang nach Canossa. Im Fall des genussfreudigen Amerikaners bedeutet dies, um die Aufnahme in eine Krankenversicherung zu betteln. »Nun gut. Bevor wir Sie krankenversichern, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Unter ›Herzanfälle‹ haben Sie angekreuzt: Drei. Aber geschrieben: Null.« - »Ach ja, ich hatte mich verlesen und dachte, das heißt: Gehirnblutungen« - »Ahja. Und trinken Sie?« - »Naja, mal so ’n Glas Portwein zu Weihnachten.« Der Agent zögert kurz, glaubt es ihm dann aber; es scheint zu klappen! Freudig über den unterschriftsreifen Vertrag gebeugt, ereilt Homer dann aber doch noch eine Herzattacke. Statt ihm zu helfen, zieht der Versicherungsmann ihm mühevoll den Kontrakt weg und wispert dem sich kammerflimmernd Krümmenden nur halb schamvoll zu, er müsse doch jetzt dringend mal ins Krankenhaus.

Es ist nur eine Szene aus der Zeichentrick-Sitcom »Die Simpsons«, die uns Deutsche jedoch gerade deshalb besonders belustigt, weil hierzulande eine solche Chose unmöglich erscheint. Nicht umsonst gibt es in dem im Ganzen ungerechten Gesundheitssystem immerhin die Pflicht und das Recht auf Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung. Noch. Denn so unwahrscheinlich ist es nicht, dass auch dieser Grundsatz schon bald fallen wird. Im digitalen Zeitalter ist der Mensch nicht mehr nur gläsern, er wird rund um die Uhr erfasst, durchleuchtet, analysiert und bewertet. Auch und vor allem durch eigenes Zutun. Gemeint sind damit diesmal aber nicht übliche Verdächtige wie Facebook, Google oder Amazon. Eine weltweit rasant wachsende Bewegung versteht sich als »Quantified Self« - das vermessene Ich. Deren Anhänger sammeln so viele Daten über sich wie möglich. Manche verzeichnen jeden alkoholischen Drink, andere notieren die Anzahl der Treppen, die sie pro Tag steigen oder beobachten ihre Stimmungsveränderungen in Abhängigkeit von Essen, Schlaf und Sport.

Seit diesem Sommer bietet die Firma Apple ihrer Kundschaft eine »Gesundheits-App« fürs Smartphone an, die Informationen wie Herzfrequenz, verbrannte Kalorien, Blutzucker- oder Cholesterin-Werte abspeichern und in einer Statistik darstellen kann. Welch eine Steilvorlage für das Gesundheitswesen! Das diese auch freudig annimmt: Kürzlich kündigte Europas größter Versicherer ein ganz besonderes Bonusprogramm an. »Generali«-Kunden, die sich mittels einer solchen »Gesundheits-App« überwachen lassen, erhalten künftig Prämien und Rabatte bei ihrer Krankenversicherung. Immer offensichtlicher wird, was der Journalist Christoph Kucklick so formuliert: »Unser Körper, unsere sozialen Beziehungen, die Natur, unsere Politik, unsere Wirtschaft - alles wird feinteiliger, höher auflösend, durchdringender erfasst, analysiert und bewertet denn je.«

In seinem Buch »Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst« stellt der amtierende »Geo«-Chefredakteur einige steile Thesen auf, die sich auf den ersten Blick wie das typisch alarmistische Geschreibsel eines kruden Kulturpessimisten lesen. Er stellt apodiktisch fest (»Wir werden radikal vereinzelt, singularisiert«), er warnt wortreich (»Die Gemeinschaft der Singularien degeneriert in die eine totale Konkurrenzgesellschaft«) und er stellt sorgenvoll Fragen (»Wenn irgendwann einmal alles, was wir für Denken hielten, von Maschinen erledigt wird - was bleibt dann noch?«). Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob es wirklich Not tut, dass Autoren populärer Sachbücher immerfort meinen, eigens für den Titel kreierte Schlagworte im missionarischen Sendungsbewusstsein blumig ausstaffiert vorzutragen und deren eigentlich knackig in einem Zeitungsessay formulierbare Kernaussagen künstlich auf Buchlänge auszuweiten.

Dieser Autor, dessen Hang zu komplizierten Substantiven die erlernte Profession des Soziologen deutlich anzumerken ist, tappt aber immerhin nicht in die verführerische Falle, so zu tun, als sei die schöne neue Welt des Digitalen ausschließlich eine Profitmaximierungsmaschinerie für die bösen Großkonzerne, der die in ihrem Dummdödeldasein darbenden digitalen Deppen bereitwillig folgen. In erster Linie sei es mit der Politik gerade die Hüterin der formalen Demokratie selbst, die in einer geschickt lancierten »Differenzrevolution« gezielt Grundrechte verletze, um an möglichst viele Daten heranzukommen. Als die Kampagne Barack Obamas im US-Präsidentschaftswahlkampf 2012 bereits hoffnungslos schien, legte sein riesiges Team in bis dahin beispielloser Manier eine Datenbank über 160 Millionen Wähler an, sammelte bis zu 20 000 Datenpunkte pro Person. Dank eigens entwickelter Algorithmen wusste man so viel über jeden einzelnen von ihnen, dass die Freiwilligen exakt einschätzen konnten, mit wem aus dem großen Pool der Unentschlossenen sich ein Gespräch lohnt und mit wem nicht.

Nun hat in diesem Fall die Überwachung immerhin dem (wenn auch nur unwesentlich) kleineren Übel zum Wahlsieg verholfen. Was Kucklick aber daraus folgert, ist einleuchtend und bedrohlich: Eine Regierung, die ihre Bevölkerung derart singularisiert, zertrümmert zugleich die letzten Reste gesamtgesellschaftlicher Solidarität. Beruht der in Deutschland immerhin rudimentär erhaltene Sozialstaat noch auf dem Prinzip, dass es in dieser Hinsicht keine individuelle Verantwortung für den eigenen Lebenswandel gibt, könnte sich dies nun dramatisch verändern. Künftig werde es immer leichter sein, bisher vom Gemeinwesen zu tragende Kosten dem Einzelnen aufzubürden, etwa dessen Lungenkrebserkrankung auf zu viel Qualmen oder dessen Diabetes auf allzu ausgiebigen Zuckergenuss zurückzuführen. Das wäre dann der endgültige Durchbruch der seit Jahren fröhliche Urständ feiernden neoliberalen Erzählung vom eigenverantwortlichen Bürger.

Wenn der Staat in seiner »Kontrollrevolution« nun erst einmal konsequent granular handele, so Kucklicks Gedankenexperiment, dann erhalten etwa manche Medikamente »nur die Bürger, deren Daten vermuten lassen, dass sie sich an die Dosierung halten und ihren Lebensstil gesundheitsfördernd umstellen. Studenten, deren Kennziffern erwarten lassen, dass sie ihr BAföG schneller als vorgesehen und ohne Ausfälle zurückzahlen, erhalten entweder mehr Förderung oder günstigere Konditionen«. Eine Kreditkartenfirma stuft bereits jetzt die Bonität derer herab, die mit der Karte ihren Therapeuten, den Eheberater oder einen Reifenreparaturservice bezahlen. Und eine kanadische Bank fand in ihren Datenwolken, dass Besucher einer bestimmten Bar ein besonders hohes Bankrottrisiko haben, und wertete mal eben die Bonität aller Barbesucher ab.

Am Ende fragt der Autor sich im Sinne Erich Kästners: »Wo bleibt das Positive?« - und driftet leider doch noch ins Schablonenhafte ab: Wenn die Maschinen uns irgendwann alles Denken abgenommen haben, dann sollten wir ein neues Menschenbild propagieren und uns auf das konzentrieren, »was wir üblicherweise für den Ausweis unseres Menschseins halten: unsere sozialen Beziehungen, unser Wissen, unsere Ambitionen, unsere Werte«. Das klingt versöhnlich, freundlich, wohltuend; ist aber leider hoffnungslos naiv. Zeigen doch die im Buch einleuchtend vorgeführten Beispiele, dass Maschinen unter kapitalistischen Bedingungen uns niemals von Zwängen befreien, sondern nur neue schaffen können. Auch wenn es den Verkaufszahlen des Buches sicher nicht förderlich gewesen wäre, hätte sich Kucklick also fürs Erste seinen schwülstigen Ausblick sparen und Kästners Frage nach dem Positiven vorerst so beantworten sollen, wie es der große Dichter einst tat: »Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt!«

Christoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Ullstein Verlag, Berlin 2014. 272 S., geb., 18 €.