Ungarn wollen Armut blockieren

Protestwelle gegen antisoziale Politik des rechtskonservativen Kabinetts Orbán

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit einer Protestwelle antworten die Ungarn auf die antisoziale Politik Victor Orbáns und seine autoritäre Führung. Verkehrsblockaden in allen Landesteilen sollen symbolisch die Verarmung stoppen.

Zu einer Massenkundgebung gegen den Kurs der rechtskonservativen Regierung der Fidesz-Partei von Viktor Orbán war am Dienstag in der ungarischen Hauptstadt aufgerufen. Damit wurde der Widerstand, der die Woche mit Straßenblockaden an 43 Orten des Landes eingeleitet hatte, fortgesetzt.

Das ungarische Parlament verabschiedete am Montag das Budget für 2015 mit einer Kürzung der Sozialausgaben um zehn Prozent. Für die kommenden drei Jahre sind weitere Streichungen in Höhe von rund zwei Milliarden Euro vorgesehen. Alle in Form von realen finanziellen Zuwendungen gegebenen Sozialbeihilfen werden gestrichen. Stattdessen wird der Staat wie eine Wohltätigkeitsorganisation »materielle Hilfe« wie Lebensmittel verteilen.

Nach der Philosophie der Regierungsparteien sind Arme an ihrer Lage selber schuld. Solch moralisch zweifelhaften Menschen gibt man nach ihrer Logik kein Geld, weil sie es nur versaufen. Die Familienbeihilfe wird nur noch an Menschen ausbezahlt, die Arbeit haben. Wenn die Kinder nicht in den Kindergarten oder die Schule gehen, wird auch sie gestrichen.

Die Mindestrente von rund 93 Euro wurde seit einer Ewigkeit nicht erhöht - und das mit gutem Grund. Denn viele andere Sozialausgaben und Beihilfen werden im Verhältnis zur Mindestrente berechnet. Horrornachrichten Arbeiterinnen, die vor Hunger in Ohnmacht fallen, oder Menschen, die die Mittagspause auf der Toilette verbringen, damit Andere nicht sehen, dass sie nichts zum Essen haben, sind alltäglich geworden.

Im Maßstab der EU ist laut der Armutsforscherin Ibolya Czibere die Kinderarmut nach Bulgarien und Rumänien in Ungarn am weitesten verbreitet. Mindestens 250 000 Kinder gehören heute in diesem Land mit weniger als zehn Millionen Einwohnern in diese Gruppe. Nicht die Armut der Eltern, sondern »ihre Lebensart« sei aber daran schuld, wenn Kinder ohne Frühstück in die Schule gehen, behauptete in einem Radiointerview der Fraktionschef der mitregierenden Christdemokraten Peter Harrach.

Der von Bundespräsident Joachim Gauck mit dem Großen Verdienstkreuz ausgezeichnete ungarische Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, hat schöne Rezepte zur Erniedrigung dieser Kinder parat. So lud er vergangenen Weihnacht 40 in Armut lebende Kinder zu einem christlich-menschlich-wohltätigen »Adventsabendessen« in das Luxusrestaurant im Hotel Hilton ein und ist dabei vor Scham nicht im Boden versunken.

Auf eine parlamentarische Anfrage der sozialistischen Fraktion zur Armut im Lande antwortete Ministerpräsident Viktor Orbán am 8. Dezember: »Die Zahl der Armen in Ungarn wächst nicht, sondern nimmt ab.« Die Zahl der von Beihilfen lebenden Menschen sei schließlich kleiner geworden, und weil mehr Menschen arbeiten und dabei mehr Geld verdienen würden, »kann daraus logisch nichts anderes folgen, als dass die Armen heute mehr Geld haben, als sie früher hatten«.

Dass weniger Beihilfen bezogen werden, weil diese gekürzt und der Empfängerkreis eingeschränkt wurde, verschwieg der Ministerpräsident. Auch lobte er die von ihm eingeführte Zwangsarbeit für Arbeitslose. Die Entlohnung dafür liegt sogar noch unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 215 Euro, der wiederum unter dem offiziellen ungarischen Existenzminimum von rund 280 Euro.

Der Anteil der unter der offiziellen Armutsgrenze Lebenden erreichte schon unter der sozialistisch-liberalen Regierung die Marke von einem Drittel der Bevölkerung. Unter der christlich-nationalistischen Regierung ist er rasant gewachsen und liegt laut dem ungarischem Gesellschaftsforschungsinstitut Tárki bei annähernd 50 Prozent. Alle Studien belegen , dass es im heutigen Ungarn so gut wie keine Chance mehr gibt, aus der Armutsfalle herauszukommen.

Das ungarische Statistische Zentralamt veröffentlicht seit der Machtübernahme von Orbán im Jahre 2010 keine Daten mehr darüber, wie viele Menschen unter dem gesetzlichen Existenzminimum leben. Doch Eurostat macht weiterhin erschreckende Statistiken. Der jüngste Armutsbericht für 2013 weist Ungarn vor Bulgarien, Rumänien, Griechenland und Lettland als fünftärmstes Land der EU aus. Nur in Griechenland ist die Armut zwischen 2008 und 2013 rascher angewachsen als in Ungarn.

Hinzu kommt eine dramatische Preisentwicklung bei lebenswichtigen Gütern. In zehn Jahren erreichte die Teuerung der Lebensmittel in Ungarn mit 164,5 Prozent die zweithöchste Rate in ganz Europa. Von den 19 ungarischen Komitaten gehören heute 12 zu den Armenhäusern der EU. Premier Orbán zieht derweil um in die Budapester Burg.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal