Festtage im Pfandhaus Titanic

Bulgarien 25 Jahre nach der »Wende« ist ein Land der Widersprüche

  • Thomas Frahm, Sofia
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des »realen Sozialismus« präsentiert sich Bulgarien als Land kapitalistischer Kontraste.

Bulgarien gilt immer noch als eines der ärmsten Länder Europas. Berichte drehen sich um Skandale, Bankenbetrug und Korruption an der Spitze der Gesellschaft, um Krankheit, Elend und unbezahlte Rechnungen am unteren Ende der Gesellschaftspyramide. Und wenn es nicht solche Nachrichten aus dem politischen Zentrum des Landes, der Hauptstadt Sofia, sind, dann berichten die Nachrichten von Dörfern, die in Schnee und Eis von der Welt abgeschnitten sind oder, wie aktuell in Südbulgarien, von Hunderten von Familien, die wegen starker Regenfälle aus ihren überfluteten Häuschen ausziehen mussten. Sie werden das Fest der Geburt des Mannes, der Nächstenliebe predigte, auf eine harte Probe stellen. Denn es könnte gut sein, dass viele Weihnachten unfreiwillig als Gäste bei Freunden oder Verwandten verbringen müssen.

Wie aber geht es »Iwan Normalbulgarov« heute, 25 Jahre nach der Wende? Einem ausländischen Besucher, der in diesen Tagen durch Bulgarien reist und wissen möchte, wie es den Menschen abseits politischer Verlautbarungen und statistischer Zahlen wirklich geht, wird vermutlich Widersprüchliches auffallen. Einerseits sieht er so viele gut und neu eingekleidete Menschen wie noch nie. Auch unter den Kleidungsstücken, die nicht selten sorgsam über den Rand der meist offen gähnenden Großcontainer für Müll gehängt werden, findet man keineswegs nur Lumpen und Abgetragenes, sondern viel Markenkleidung und Bettwäsche, die vor dem Aussortieren für die Armen sogar eigens noch gewaschen wurde.

Ein Blick auf die Wirtschaftszahlen scheint in dieses Bild einer neuen, in den vergangenen Jahren entstandenen bürgerlichen Mittelschicht zu passen. Mit 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum hat Bulgarien eine Quote, die über der Inflationsrate (0,9 Prozent) liegt. Auch die derzeitige Arbeitslosigkeit von 10,8 Prozent ist niedriger, als man erwarten könnte. Doch ist das eben ein Durchschnittswert: In Sofia gibt es so gut wie keine Arbeitslosen, in der Provinz dafür regional oft mehr als 30 Prozent. Doch auch die Hauptstadtquote betrifft nur die offiziell gemeldeten ohne Beschäftigung und nicht die wachsende Schicht der Analphabeten ohne Schulabschluss, die nie eine reguläre Arbeitsstelle hatten. Und jene, die eine haben, schuften entweder noch immer ohne Arbeitsvertrag oder werden zum Mindestlohn eingestellt, weil das geringere Versicherungslasten für die Arbeitgeber bedeutet.

Folge ist, dass viel zu wenig Beiträge in die staatlichen Sozialversicherungen eingezahlt werden. Das schlägt auf das Gesundheitssystem durch, auf Krankenhäuser, die unterversorgt sind und oft nur Operationen durchführen können, wenn der Patient aus eigener Tasche zuzahlt, weil der Topf der Krankenkasse weit vor Jahresende leer ist. Die Rentner werden dieses Jahr keine Weihnachtszulage erhalten, denn die Rücklagen, die Bulgarien lange hatte, sind in den letzten Jahren verschwunden - weil die jeweils Regierenden vor Wahlen noch so viele öffentliche Auftrage vergaben, dass die Nachfolgeregierung in Zahlungsnot geriet.

Und er erwartet, dass die Hauptstadt prosperierend aussehen müsste, der irrt: Mitten in der City sieht man neben jüngst renovierten Gründerzeitbauten (meist Hotels) und den neuen Stahl-Glas-Palästen der Banken leer stehende Häuser in abbruchreifem Zustand. In der wirtschaftlich boomenden, aber trotz sichtbarer Verschönerungsbemühungen der derzeitigen Bürgermeisterin Fandekowa immer noch zerfallen aussehenden Metropole des Landes findet man in den Geschäftsstraßen gleich neben Feinkostläden und Edelboutiquen Pfandhäuser in Hülle und Fülle. Eines heißt sogar Pfandhaus Titanic. Das passt durchaus zu den bulgarischen Kontrasten: Wer sich wirtschaftlich vor dem Untergang retten will, betritt einen Laden, der Titanic heißt!

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