»Ein netter Platz zum Leben, wie?«

Robert James Fletcher war begeistert von Robert Louis Stevenson und suchte die eigene Südsee-Erfahrung

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer einmal an der Südsee war, dem bleibt die Erinnerung an blauen Himmel, weißen Sandstrand, Palmen und glasklares Wasser. Heute sind die Mücken relativ harmlos, zumal für Touristen mit Malariaimpfung. 1912, als sich Robert James Fletcher für sieben Jahre auf den Neuen Hebriden niederließ, waren die von ihnen übertragenen Krankheiten eine akute Lebensgefahr. »Inseln der Illusion« hat Bohun Lynch deshalb die Sammlung mit Briefen genannt, die ihm der Freund von der Südsee schrieb.

Eigentlich wollte Robert James Fletcher Arzt werden. Seine Familie geriet jedoch in finanzielle Schwierigkeiten, als der Vater starb. Er musste sein Studium abbrechen. Erst mit Anfang dreißig konnte er mit Hilfe einer Erbschaft ein Chemiestudium in Oxford abschließen. Er arbeitete danach als Hilfslehrer in Kairo und in Montevideo, von wo er zu den Neuen Hebriden aufbrach. Bereits die ersten Briefe, die die Reise auf dem Schiff beschreiben, sind beeindruckend. Fletcher hatte aus romantischen Gefühlen ein Segelschiff gewählt, obwohl dadurch die Fahrt über siebzig Tage dauerte. Er ist hin- und hergerissen zwischen Augenblicken großer Schönheit und dem Stumpfsinn der Tage an Bord; zwischen romantischen Gefühlen und einem mehrere Tage dauernden Sturm, bei dem er das Gefühl hat, das Schiff würde sinken. Solch extremen Widersprüche prägen auch die späteren Briefe. An manchen Stellen drohen sie, den Autor zu zerreißen. Aber gerade das ist es, was sie zu einer spannenden Lektüre macht.

Fletcher war ein Abenteurer - und ein in Oxford ausgebildeter, Dante lesender Bohèmien. Es waren die Bücher Robert Louis Stevensons, die ihn für die Südsee begeistert hatten. Stevenson war erst zwölf Jahre vor Fletchers Reise auf Samoa gestorben. Aber Stevenson, der auch schon kritisch von der Zerstörung der polynesischen Kultur durch die Weißen berichtet hatte, konnte vom Einkommen seiner Bücher leben. Fletcher war darauf angewiesen, seinen Lebensunterhalt vor Ort zu verdienen.

Er arbeitete als Gerichtsübersetzer, als Landvermesser, Plantagenverwalter. Da ist für romantische Südseeverklärung kein Platz. Er beschreibt, wie die Weißen die Einheimischen auf ihren Plantagen wie Sklaven behandeln. Und er wird von verschiedenen Krankheiten drangsaliert: juckenden Hautauschlägen, Malariaanfällen, Schwarzwasserfieber. Oft vegetiert er wochenlang in der Hitze vor sich hin. Um ihn herum sterben die Menschen wie die Fliegen, insbesondere die Eingeborenen, denen er zwar mit seinen Kenntnissen zu helfen versucht, die den von Weißen eingeschleppten Krankheiten aber kaum etwas entgegenzusetzen haben. »Vor zehn Jahren gab es in einem Umkreis von einer halben Meile um diese Haus zehn blühende Eingeborenendörfer«, schreibt er am 16. März 1919. »Heute existiert kein einziges mehr. Das Gleiche spielt sich auf allen anderen Inseln ab. Ein netter Platz zum Leben, wie?«

Die Unmittelbarkeit der Schilderungen in den Briefen an den Freund, die dieser ohne Fletchers Wissen noch vor dessen Rückkehr veröffentlicht hatte, kommt der Wahrheit näher als ein im Nachhinein geschriebener Bericht. Fletcher erscheint oft in keinem guten Licht, widerspricht sich, beklagt z.B. am Anfang den Rassismus, um ihn am Ende hinzunehmen, ja selbst zu vertreten. Was Südseeverklärung und Desillusionierung, die Verbrechen des Kolonialismus und die schleichende Kollaboration mit dem System der Ausbeutung betrifft, ist Robert James Fletchers »Inseln der Illusion« ein Standardwerk.

Robert James Fletcher: Inseln der Illusion. Briefe aus der Südsee. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Nachwort von Bohun Lynch (1922). Die Andere Bibliothek. 340 S., geb., 36 €.

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