Eine Zäsur

Die Dreyfus-Affäre vor 120 Jahren. Von Michael Berger

  • Michael Berger
  • Lesedauer: 5 Min.

Spätere Juden werden lichtere Tage sehen, die jetzigen sind einfach übel dran.« So schildert Theodor Herzl die Situation der französischen Juden in seinem 1895 erschienen Buch »Das Palais Bourbon«. Die unvorstellbaren antisemitischen Ausbrüche, die im Umfeld des Prozesses und der öffentlichen Degradierung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus zu beobachten waren, hatten auf den jungen Wiener Journalisten wie ein Schock gewirkt.

Am 22. Dezember 1894 wurde Dreyfus schuldig gesprochen, »in Paris einer fremden Macht oder ihren Agenten eine gewisse Anzahl von geheimen und vertraulichen Dokumenten, die die nationale Verteidigung betreffen, übergeben zu haben«. Das Oberste Kriegsgericht in Paris verurteilte ihn einstimmig zu Degradierung und Verbannung an einen befestigten Platz. Dreyfus wurde am 5. Januar 1895 in einer äußerst demütigenden Prozedur im Hof der École Militaire öffentlich degradiert und am 21. Februar auf die Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana deportiert. Diese Ereignisse waren das Finale einer Hetzjagd auf einen Unschuldigen, der zum Opfer eines Judenhasses wurde, der vor allem die konservativen Gesellschaftsschichten und das Offizierskorps durchdrungen hatte.

Die tapfere, aufrechte Haltung des Verurteilten ließen erste Zweifel über dessen Schuld aufkommen. So wurde bald klar, dass die Führung der Armee, das Oberste Kriegsgericht und sogar Mitglieder der Regierung wissentlich einen Unschuldigen geopfert hatten, um den wahren Schuldigen, den Major Ferdinand Walsin-Esterhazy zu decken. Dieser offensichtliche Justizirrtum sollte die politische Landschaft Frankreichs über viele Jahre hinweg in zwei Lager spalten und die französische Republik in eine allgemeine Krise stürzen, die bis ins 20. Jahrhundert andauerte.

1889 war der elsässische Fabrikantensohn und Jude Alfred Dreyfus zum Hauptmann der französischen Armee befördert worden. Im selben Jahr feierte die französische Nation den 100. Jahrestag der Revolution. Die französischen Juden, die voller Stolz auf ihre Rolle als Vorreiter der jüdischen Emanzipation in Europa verwiesen, beteiligten sich mit großer Begeisterung an den Jahrhundertfeiern. In keinem anderen europäischen Land waren Emanzipation und Integration so weit verwirklicht wie in Frankreich. Die französischen Juden waren Patrioten aus innerster Überzeugung und hatten Zugang zu den elitärsten Schulen und Universitäten des Landes, zur Laufbahn als Staatsbeamte und Karriere in der Armee.

1791 hatten die Juden Frankreichs als Ergebnis der Beschlüsse der französischen Nationalversammlung das Recht erhalten, in das Heer aufgenommen zu werden. Zahlreiche französische Juden beteiligten sich bereits an den Revolutionskriegen und Napoleons Feldzügen. Auch für den jungen Dreyfus aus Mühlhausen im Elsass war der Eintritt in die Armee und die Wahl der Offizierslaufbahn eine Demonstration seines Patriotismus. Doch die Armee war im wesentlichen ein Erbe der vorherigen Regime. Das Offizierkorps wurde vom Adel dominiert, die leitenden militärischen Stellen wurden von Männern besetzt, die entweder monarchistisch oder nationalistisch gesinnt waren und die republikanische Regierung innerlich ablehnten.

Ein weiterer entschiedener Feind der Republik war die katholische Kirche. Vor allem der hohe Klerus sympathisierte mit den Monarchisten und Nationalisten und machte Front gegen jede Art von Fortschritt in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Diese konservativen, monarchistischen Kräfte bedienten sich im Kampf gegen die Republik des Antisemitismus, der seit 1880 immer mehr eine politische Rolle zu spielen begann.

Auch im französischen Offizierskorps verbreitete sich antisemitisches Gedankengut mit ansteckender Geschwindigkeit. Die Offiziere des Heeres, im Zweiten Kaiserreich die gesellschaftliche Elite repräsentierend, fühlten sich, vor allem wenn sie ohne Vermögen waren, durch die neue Werteordnung in der Gesellschaft zurückgesetzt. Die Karrieren einiger brillanter jüdischer Offiziere verstärkten den von antisemitischen Zeitungen geschürten Hass. Jüdische Offiziere wurden regelmäßig das Ziel antisemitischer Angriffe. Die logische Konsequenz war, dass man nach Bekanntwerden des Verrates relativ schnell den »einzig möglichen Verdächtigen fand«. Hauptmann Dreyfus war Artillerist und die Spionageunterlagen betrafen gerade diesen Bereich; er hatte verschiedene Abteilungen des Generalstabes durchlaufen - und er war Jude. Des weiteren kam er aus dem Elsass, war also fast ein Deutscher und damit ohnehin ein potenzieller Landesverräter.

Die Ursachen für die Dreyfus-Affäre lagen in den Geburtswehen der Dritten Französischen Republik und im Trauma der Niederlage, mit dem die Grande Nation in den Jahren nach dem Krieg von 1870/71 zu kämpfen hatte. Nur vor diesem Hintergrund konnte diese Affäre, obgleich anfangs ein recht unbedeutendes Ereignis, zur Spaltung Frankreichs führen. Obwohl sich - auch durch eine beispielhafte Verteidigungsaktion (Émile Zola, »J’accuse«) - die Unschuld von Dreyfus beweisen ließ, dauerte es zwölf Jahre bis zu seiner Rehabilitierung. Das damit verbundene Gerichtsverfahren hatte immense außenpolitische Wirkungen und belastete das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland erheblich.

Für Theodor Herzl waren Affäre, Prozess und deren Auswirkungen die Motivation für sein politisches Hauptwerk »Der Judenstaat«, in dem er einen eigenen Staat für das jüdische Volk forderte und so die zionistische Bewegung begründete. Die Affäre Dreyfus stand zugleich nicht nur für die Zeitenwende zur Moderne. Deren Folgen klingen bis heute nach und stellen einen Markstein im kollektiven Gedächtnis dar, der in ganz Europa das gesellschaftliche sowie politische Bewusstsein schärfte. Damit spielte die Dreyfus-Affäre eine nicht unwesentliche Rolle für die Entstehung der modernen Demokratie.

Michael Berger ist Offizier im Stab eines Bundeswehrkommandos in Berlin und Autor militärhistorischer Bücher, darunter »Eisernes Kreuz und Davidstern«.

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