Berliner sein als Hypothek

Die Ausstellung »Wir sind alle Berliner: 1884-2014« spürt dem Echo der Berliner Kongokonferenz nach

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Berliner zu sein, kann eine historische Hypothek mit sich bringen. Darauf macht die breit angelegte, Kolonialismusfolgen abschätzende Ausstellung »Wir sind alle Berliner: 1884-2014« in der Galerie Savvy Contemporary aufmerksam. Das Berliner-Sein bezieht sich hier auf die Kongokonferenz vom November 1884 bis Februar 1885. Bismarck bat die europäischen Großmächte zu Tisch, um Einflusszonen auf dem afrikanischen Kontinent festzulegen. Afrikaner waren nicht geladen. Viele der aktuell umkämpften nationalstaatlichen Grenzen wurden hier gezogen.

»Ohne diese Berliner Konferenz würde Europa ein ganz anderes Gesicht haben«, betont Galerist Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. »Ohne Leopoldville (die koloniale Bezeichnung des heutigen Kinshasa) würde es kein Belgien geben«, spielt er auf die Bedeutung der afrikanischen Kolonien für das kleine und selbst zerrissene europäische »Mutterland« an. Und auch die Konfliktlinien des Ersten und des Zweiten Weltkriegs seien Folgen der Kongokonferenz, spekuliert Ndikung. Von daher sind Europäer wie Afrikaner allesamt »Berliner«, eben von den Folgen dieser Konferenz geprägt. »Wir sind es, ob wir wollen oder nicht«, fügt er hinzu.

Umso mehr wundert es ihn, dass im Jahr der weltgeschichtlichen Jubiläen diesem Ereignis selbst an der Spree keine Aufmerksamkeit zuteil wurde. »Es wird an 100 Jahre Erster Weltkrieg gedacht, an 75 Jahre Zweiter Weltkrieg und an 25 Jahre Mauerfall. Die 130 Jahre Kongokonferenz spielen hingegen keine Rolle«, klagt er.

Im ehemaligen Umspannwerk Neukölln, einer dieser aus Backsteinen errichteten »Kathedralen der Elektrizität« des vergangenen Jahrhunderts, füllt die Ausstellung »Wir sind alle Berliner« diese Lücke aber gut. Kuratiert vom Biennale-Venezia-erfahrenen Simon Njami, besticht sie mit einzelnen künstlerischen Positionen, die sich zu einem spannenden Gesamtpanorama verdichten.

Die stärkste Arbeit stammt vom aktuellen Träger des Berliner Kunstpreises, Kader Attia. In seinem erstmals in Berlin gezeigten Video »Oil and Sugar2« verbindet er den Rohstoff der früheren Kolonialisierung Afrikas mit dem Stoff, der heute Kriege befeuert. Auf einen weißen Kubus aus Zuckerwürfeln rieselt schwarzes Öl, bis die hellen Kristalle völlig in einer dunklen Pampe aufgelöst sind. Zu Beginn dieses Auflösungsprozesses bricht die Zuckerkonstruktion unter dem Einfluss der Flüssigkeit zusammen wie die Türme des World Trade Center in Folge des Einschlags der Flugzeuge. Zucker war eines der Hauptgüter im kolonialen Dreieckshandel zwischen Afrika, Lateinamerika und Europa.

Eine Installation des Künstlers und Ethnologen Cyrill Lachauer hat die Kolonialisierung Amerikas zum Thema. Ein Video zeigt einen rituellen Tanz von federgeschmückten Sioux. Der Begleittext verrät, dass es sich um Aufnahmen einer Western Show des umtriebigen Buffalo Bill handelt. Indigene Kunst- und Ritualpraktiken werden zu Entertainmentzwecken ausgebeutet, nachdem die ursprünglichen »Performer« dezimiert wurden. Auf die von den Eroberern provozierte Pockeninfektion indigener Völker weist eine Baumwolldecke hin, die Lachauer mit Hufabdrücken von Pferden versah.

Den Bogen bis nach Japan spannt der Klangkünstler Satch Hoyt. Er verbindet ein Gebet der Cowboys, der das weite Land preist, mit einer Ansammlung in New York erworbener japanischer Porzellanfiguren, die auf einer Membran stehen und durch Klänge zum Vibrieren gebracht werden. Die Porzellanfiguren sind um einen indianischen Totempfahl gedrängt und weisen auf diejenigen hin, die weichen mussten, damit Cowboys von weitem Gelände träumen konnten.

Bis zum NSU reicht die Suche nach den Nachwirkungen der Kongokonferenz. Dessen dummnationalistische Ideologie ist zumindest im Sinne eines Verteidigungskampfes der Nachfahren der Kolonisationsprofiteure gegenüber den Opfern dieser Ausbeutungspraktiken in die Narration der Ausstellung einzuweben. Mit bestechender Präzision zeichnet die gebürtige Zwickauerin Henrike Naumann in der Videoarbeit »Triangular Stories« den Alltag zweier junger Burschen und einer jungen Frau im ostdeutschen Plattenbaumilieu nach, so dass man sich mitten ins banale Leben des Terrortrios Zschäpe/Mundlos/Böhnhardt hineinversetzt fühlt.

Die Ausstellung läuft bis zum 28. Februar 2015 und wird mit einem Symposium vom 26. Februar, dem 130. Jahrestages des Endes der Kongokonferenz, bis zum 28. Februar beschlossen. Die passende Infrastruktur ist mit postkolonialer Bibliothek und kleinem Konferenzraum bei Savvy Contemporary bereits gegeben. Eine faszinierende Alltagspraxis setzt sich hier fort: In den 1920er Jahren konnten die Neuköllner im Umspannwerk noch Strom wie frische Milch erwerben. Die frische Milch von heute sind ästhetische Erkenntnisse über politische Zusammenhänge.

Savvy Contemporary, Richardstr. 20, Neukölln, Sa/So 14-18 Uhr

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