Dem einen Pfründe, den anderen Armut

Unter dem Schirm von ISAF hat sich am Hindukusch ein Patronage-System mit mafiösen Zügen etabliert

  • Thomas Ruttig
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Sicherheits- und Wiederaufbaumission bedarf einer schonungslosen Bilanz. ISAF hat viele Hoffnungen nicht erfüllt.

Wenige Tage vor Ende der ISAF-Mission ist das künftige Schicksal Afghanistans ungewiss. Die Bilanz von ISAF selbst fällt zwiespältig aus, bewegt sich zwischen Bischöfin Margot Käßmanns »Nichts ist gut in Afghanistan« und »Wir haben viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel«, wie es die Bundesregierung in ihrem im November veröffentlichten Fortschrittsbericht formuliert. Das ist keine eindeutige Erfolgsaussage (mehr). Oder wie der Bericht der Bundesregierung ebenfalls feststellt: Es lässt sich »nichts Definitives über die Nachhaltigkeit« des Erreichten aussagen. ISAF hat viele Hoffnungen nicht erfüllt, blieb vor allem aber weit unter den Möglichkeiten. Die Zeit der Taliban-Herrschaft davor bildet dabei keinen objektiven Vergleichsmaßstab.

Was die Sicherheit angeht, ist die Situation so, dass die Talibanbewegung weder besiegt noch zerschlagen wurde, die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) aber bisher auch keine eklatanten Geländegewinne der Aufständischen zuließen. Es gibt ein militärisches Patt auf hohem Gewaltniveau. Das verdeutlicht die Zahl der zivilen Kriegsopfer sowie der stark wachsenden ANSF-Verluste.

Im ersten Halbjahr 2014 starben nach UN-Angaben 1564 Zivilisten, 17 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Hohe US-Militärs bezeichneten die ANSF-Verluste - 9800 Tote seit Jahresbeginn 2013 - als »nicht tragbar«.

Die Taliban rückten in diesem Jahr näher heran an Distrikt- und sogar Provinzhauptstädte wie Kunduz und operierten wieder in größeren Verbänden. Die jüngste Anschlagsserie in Kabul zeigt, dass sie zur Eskalation in der Lage sind. Sie erhalten weiter Unterstützung aus dem militärischen Establishment im benachbarten Pakistan. Die Probe aufs Exempel wird für die afghanischen Streitkräfte aber erst 2016 stattfinden, wenn - wie von US-Präsident Barack Obama verkündet - die Stärke der in der ISAF-Nachfolgemission Resolute Support verbleibenden restlichen US-Truppen, auf Kabul zurückgezogen, auf unter 5000 Personen halbiert und damit die Luft- und sonstige logistische Unterstützung für die ANSF reduziert wird.

Aus Sicht der afghanischen Zivilbevölkerung zählt vor allem eines: Der Krieg dauert an. Es ist für sie in weiten Teilen des Landes gefährlich, sich zu bewegen und die neue Infrastruktur - Schulen, Krankenhäuser, Straßen und andere Entwicklungsprojekte - zu nutzen. Die Erfolge im Wiederaufbau werden meist nur quantitativ beschrieben und bleiben oberflächlich. Angaben über die Steigerung der Lebenserwartung oder eine Verringerung der Mütter- und Kindersterblichkeit beruhen auf alles andere als verlässlichen afghanischen Regierungsquellen.

Wenn von sieben bis acht Millionen Kindern die Rede ist, die heute zur Schule gehen (davon ein Drittel Mädchen), bleibt oft unerwähnt, dass 68 Prozent davon (und 82 Prozent der Schülerinnen) - die Schule vor Beendigung der sechsten Klasse verlassen. 2010 hatte Afghanistan laut UNESCO-Angaben den weltweit niedrigsten Wert in der Geschlechtergerechtigkeit; in den Berichten für die nachfolgenden Jahre gibt es keine Angaben mehr dazu.

Von der Verfünffachung des Bruttosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung profitiert vor allem eine mit der Regierung verbundene Oberschicht. Die Normalbevölkerung kämpft mit steigenden Preisen, einem Verfall der ohnehin überbewerteten Währung sowie zunehmender Arbeitslosigkeit. Laut Weltbank erreichten nur 14 bis 25 Prozent der enormen Summen an Entwicklungs- und Militärhilfe - laut International Crisis Group bis 2011 zirka 57 Milliarden Dollar (jüngste US-Angaben nennen 104 Milliarden allein von der Regierung in Washington) - die einheimische Wirtschaft.

Afghanistans staatliche Institutionen sind weiterhin schwach und wenig partizipativ. Das zeigte die diesjährigen Präsidentschaftswahl, die kein eindeutiges und von allen Seiten akzeptiertes Ergebnis hervorbrachte. Die Gewaltenteilung funktioniert bisher nicht, der Rechtsstaat ist schwach. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen. Die Mächtigen können sich ungestraft über das Gesetz stellen. Der Rat der Islamgelehrten (Ulema), dessen Führung mit dem Kreis der überlebenden Führer des antisowjetischen Kampfes in den 80er Jahren identisch ist, dominiert den öffentlichen Diskurs, in dem jede abweichende Meinungsäußerung als »unislamisch« diffamiert werden kann. Die recht vielfältigen Medien üben deshalb strikte Selbstzensur.

Die dreizehn Jahre unter dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai haben, mit tätiger Mitwirkung oder unter Duldung vieler westlicher Regierungen, Afghanistan in ein Patronagesystem verwandelt, das ob seiner Verquickung mit der Drogenökonomie mafiöse Züge trägt. Darin wird zwar geherrscht - es werden Ressourcen und Pfründen verteilt - aber nicht regiert, in dem Sinne, dass wenigstens die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden. In den letzten drei Jahren hat sich der Anteil der unter der Armutsgrenze Lebenden - ein Drittel - nicht mehr verringert. Stagnation auch bei der Ernährungssicherheit: Ein Drittel der Bevölkerung leidet unter akutem Nahrungsmangel, ein weiteres Drittel ist davon bedroht.

Auf dem Korruptionsindex von Transparency International hat Afghanistan 2014 zwar den letzten Platz verlassen, aber auch nur gerade so. Die Aufstandsbewegung selbst ist mehr Symptom denn Ursache dieser inneren Probleme, auch wenn sie sich unter dem militärischen Druck der westlichen Alliierten ideologisch antiwestlich verfestigt hat.

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