»Nichts wird besser. Bestenfalls anders«

Die Beschreibung heiterer Sonnentage ist James Sallis’ Sache nicht. Am Sonntag wurde er 70 Jahre alt

Auf die Frage seiner Freundin Clare, was er einmal, dem Tode nah, als sein Lebensmotto mit dem Fingernagel auf die Bettdecke kritzeln würde, wie es einst Tolstoi mit letzter Kraft getan haben soll, antwortet Lew Griffin in dem Roman »Nachtfalter«: »Irgendwas aus einem Gedicht, das ich vor einer Weile gelesen habe, glaube ich: ›Finde das Schöne, versuch es zu verstehen, überlebe‹.« Da es sich bei Lew Griffin um einen der belesensten Privatdetektive der Literaturgeschichte handelt, macht das Zitat neugierig.

Wer nach diesen Worten im englischen Original im Internet sucht, findet einen Essay von James Sallis über sein Leben als Schriftsteller. Die Zeile, die seine Romanfigur zu ihrem Lebensmotto erklärt, gehört zu einem Gedicht, das Sallis zur Hochzeit des Kalten Krieges für den russischen Dichter Andrej Wosnessenski verfasste. Darin heißt es sinngemäß, das einzige, was zu tun bleibe in einer zerbrochenen Welt, die nicht einmal mehr Dichter wie Tolstoi habe, sei eben dies. Über seine eigene Gedichtzeile schreibt Sallis im Rückblick: »Es war eine dieser wunderschönen Passagen, die völlig unerwartet und ungeplant um die Ecke getappt kommen« und sich entpuppen »als pures Geschenk, als Wissen, von dem du keine Ahnung hattest, das du es besitzt, bis es vor dir erscheint«. Solche Zeilen seien der Grund dafür, dass er weiter schreibe. Dann wiederholt er sie nochmal, die auf Englisch noch viel schöneren Worte: »Find beauty. Try to understand. Survive.«

In dem Essay erklärt Sallis allerdings, dass es für ihn nie eine Alternative dazu gab, Schriftsteller zu sein, und er sich auch stets als solcher gefühlt habe, selbst wenn er sich anderweitig verdingen musste. Und er beschreibt, wie mit der Veröffentlichung seiner ersten Geschichte in einem Science-Fiction-Magazin und seines ersten Gedichts in einer Literaturzeitschrift sein Leben als »Doppelagent« begonnen habe: Während er bei Tage das Leben eines wohlgesitteten kommerziellen Autors führe, zeche und lebe er bei Nacht in wilder Ehe mit literarischen Vierteljahresschriften.

Obwohl die sechsbändige Reihe von Kriminalromanen um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin in New Orleans zweifellos zu Sallis’ finanziell einträglicherem Tagewerk gehört, mag man sie sich nicht anders vorstellen, als einsam in tiefer schwüler Nacht an einem Küchentisch bei vielen Kannen Kaffee und unzähligen alkoholischen Drinks verfasst. Griffin ist ein zutiefst melancholischer, dem Alkohol verfallener Mann, der es nur mit großer Mühe schafft, sein Leben in den Griff zu bekommen, wie man so sagt. Meist wird er beauftragt, Verschwundene zu suchen, und was er findet, sind beinahe unerträglich grausame Geschichten von Menschen, die ihr Dasein nicht mehr ausgehalten haben, die sich selbst zerstört haben, in die Zerstörung getrieben wurden - oder einen völlig sinnlosen Tod gefunden haben. Die Handlung lebt mitnichten von einer Spannung, wie man sie in Krimis erwartet, die in Buchhandelsketten stapelweise herumliegen. Sie lebt von der unaufgeregten Dramatik von Depression, Gewalt und Überdosis, die das Leben in den finsteren Ecken von New Orleans bietet. Und dem Kampf dagegen.

»In unserem Leben muss stets ein Licht leuchten«, hatte Griffins Lehrer auf dem Collage gesagt, ein vielversprechender Dichter, der den Kampf verloren hatte. »Man fand ihn am Boden seines Badezimmers. Er hatte sich an einem Haken über der Badewanne erhängt, und obwohl der Haken aus der verrotteten Rigipsdecke gerissen war, hatte er sich bereits den Kehlkopf zerquetscht und außerdem beim Sturz auf den Wannenrand das Rückgrat gebrochen, so dass er kurz darauf zuckend und zappelnd inmitten der rausgebrochenen Gipsbrocken gestorben war.«

Griffin erleidet selbst mehr als einen Zusammenbruch, und doch passieren immer wieder Dinge, die das Licht in seinem Leben leuchten lassen. »Rote Haare schwebten irgendwo über mir. ›Ich würde mich nicht zu viel bewegen, Sir‹, sagte jemand, und jedes R klang, als ob ein kleiner Motor angelassen wurde.« So beginnt die berührende kurze Liebesgeschichte von Griffin und der schottischen Krankenpflegerin Vicky, die es schon bald zurück nach Europa zieht. »Irgendetwas ist hier von Grund auf falsch, irgendetwas Hartes und Unerbittliches«, sagt Vicky. »Ich spüre das bei den Patienten, mit denen ich zu tun habe, und sehe es den Leuten an, die in ihren Autos an mir vorbeifahren. Kein Wunder, dass viele von euch halb irre sind. Nicht bloß schrullig, von wegen, sondern außer sich - wie besessen.«

Griffin denkt an die realen afroamerikanischen Schriftsteller Richard Wright, Chester Himes und James Baldwin, die ihr Glück in Paris suchten, und beschließt doch für sich den anderen Weg. »Amerika hat irgendwas, mit dem ich klarkommen muss, egal wie und auf welche Weise, irgendwas, vor dem ich nicht davonlaufen darf.« Obwohl die Frage, wie es ohne Vicky sein würde, für ihn so ist, »als ob man sich eine Welt ohne Bäume und Wolken vorstellte«, endet diese große Liebe mit einer unbeholfenen Umarmung am New Orleans International Airport. Und sogar für den Rest des Romans »Stiller Zorn«, des ersten aus der Reihe, gilt, was Griffin zu seinem Freund Don sagt: »Nichts wird besser. Es wird bestenfalls anders.« Denn als nächstes verschwindet sein eigener Sohn.

Licht und Dunkelheit, Schwarz und Weiß, Nacht und Tag spielen immer wieder eine Rolle in Sallis’ Werken. So auch für den Protagonisten in dem kurzen Thriller »Drive«, dessen Verfilmung von Nicolas Winding Refn mit Ryan Goosling in der Hauptrolle vor drei Jahren in die Kinos kam und die erotischste Einparkszene der Filmgeschichte enthält. Der namenlose Mann, der vor allem Auto fährt wie der Teufel, arbeitet tagsüber als Stuntfahrer beim Film, nachts als Fluchtfahrer bei Raubüberfällen. Naturgemäß ist es die nächtliche Tätigkeit, die zu Komplikationen und zahlreichen Todesfällen führt. Driver, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass seine Mutter offenbar aus gutem Grund seinen Vater umbrachte, während er selbst, noch ein Kind, ein Sandwich mit Fleisch und Pfefferminzmarmelade frühstückte, hat mit Griffin gemein, nicht gerade eine Plaudertasche zu sein. So wenig, wie die Beschreibung heiterer Sonnentage Sallis’ Sache ist, so wenig sind es ausufernde Dialoge. Ihm kommt es auf anderes an, wie er der »Süddeutschen Zeitung« in einem Interview verriet. »Es hängt alles am Rhythmus. Wenn Menschen normal reden, sprechen sie in Fragmenten. Sie lassen Substantive aus, oder Verben, oder sie heben die Stimme bei jedem dritten Wort. So etwas höre ich auf der Straße und übertrage es in meine Bücher. Das ist nicht einfach. Ich überarbeite jeden Satz in einem Buch dreißig oder vierzig Mal, insbesondere den Dialog.«

Die Sprache des Verfassers von zwei Dutzend Romanen, unzähligen Kurzgeschichten und Gedichten ist es, die seine Werke so besonders macht und die deutschen Übersetzungen so viel stumpfer klingen lässt. Sallis ist großer Kenner und unverkennbar beeinflusst von noir fiction und hardboiled detective novels, schrieb Biografien über seine Schriftstellerkollegen Chester Himes, David Goodis und Jim Thompson. In Deutschland ist er auch an seinem 70. Geburtstag noch recht unbekannt und lediglich der kleinere Teil seiner Werke ins Deutsche übersetzt. Sein jüngster Roman »Driver 2«, die von Hollywood angeregte Fortsetzung von »Drive«, harrt noch der Verfilmung. Wieder taucht der namenlose Fahrer auf - was für ihn das Gegenteil davon bedeutet, erleichtert die Wasseroberfläche zu erreichen: »Sonnenschein, Luft, Freiheit - doch sein Impuls war, wieder abzutauchen. Er wünschte sich Dunkelheit, Sicherheit, Anonymität. Er brauchte sie; konnte nicht verstehen, wie er ohne sie leben sollte.«

Der Tag, so gewinnt man in Sallis’ Werken den Eindruck, ist stets nur eine kleine Erleichterung gegenüber der allgegenwärtigen Düsterkeit. Oder, vergleichsweise positiv mit den Worten von Lew Griffin ausgedrückt: »Bei Dunkelheit ist man aufgeschmissen. Die Erinnerung packt einen, während einem Reue und Katzenjammer zusetzen, was das Zeug hält. Das einzige, was dagegen hilft, sind ein paar harte Drinks und der Morgen.« Und auch hier ist das Original vorzuziehen: »In the darkness things always go away from you. Memory holds you down while regret and sorrow kick hell out of you ...«

Bücher von James Sallis auf Deutsch: »Stiller Zorn« und »Nachtfalter« (aus der Lew-Griffin-Reihe), DuMont; »Drive«, Heyne; »Driver 2«, Liebeskind/Heyne; »Dunkle Schuld«, Heyne

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